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Leseprobe ‚Magisch Versetzt‘

Durch den Wind

Es geschah an einem gelben Gebäude am Place de la Cathédrale. Es regnete nicht mehr. Zuzanna hatte soeben zwei Flammkuchen zum Mitnehmen in Empfang genommen und sich auf den Rückweg zu Marines Apartment gemacht, als sie plötzlich wie vom Donner gerührt stehen blieb. In der Menschenmenge vor ihr hatte sie ein bekanntes Gesicht entdeckt, aus den Augen verloren, ein weiteres Mal erspäht,  bevor es erneut verschwand, und sich gerade erfolgreich eingeredet, sich getäuscht zu haben, als eine Gruppe geführter Touristen weitergelaufen war und einen hübschen, dunkelhaarigen Jungen zurückgelassen hatte. Einen Jungen, der sich eben noch verwirrt und panisch umgesehen hatte und sie nun anstarrte. Mit Angst gepaarte Erleichterung lag in seinem Blick und er bewegte sich unsicher auf sie zu, sich immer wieder ruckartig nach allen Seiten umsehend und eine altmodische Ledertasche fest umklammernd.

Zuzannas Augenbrauen wanderten aufeinander zu. Die nächste kleine, vorbeiziehende Gruppe versperrte ihr die Sicht, doch als diese fort war, war Raphael immer noch da, begann nun im Eiltempo auf sie zuzulaufen. Sie konnte nichts anderes tun, als stehenzubleiben, auch wenn ein Teil von ihr gerne auf dem Absatz kehrtgemacht hätte. Hatte er sich mit der Blonden getroffen und festgestellt, dass sie doch nicht so toll war? Oder hatte das Mädchen ihn nur auf den Arm genommen und nun war ihm die ganze Sache peinlich?

„Zuzanna“, hauchte er ein paar Augenblicke später und in seinem Blick mischten sich Freude und Angst. „Ich … du … ich …“, er brach ab, seine Augen wanderten hektisch umher.

„Alles okay mit dir?“, erkundigte sie sich stirnrunzelnd. Warum verhielt er sich so komisch?

„Wir müssen hier weg!“, stieß er aus und packte sie etwas grob am Handgelenk.

„Was zum Henker ist hier los?!“ Zuzanna, die mit einer solchen Reaktion absolut nicht gerechnet hatte,  schüttelte seine Hand ab und trat einen Schritt zurück.

„Wir … wir müssen uns verstecken! Ach, was rede ich? Ich, ich muss mich verstecken. Vor denen!“ Ein weiteres Mal flog sein Blick panisch in alle Richtungen.

Zuzanna schluckte. Die Situation war ihr nicht geheuer. Hatte Raphael etwas mit Goldlöckchen genommen oder geraucht? Seine Augen sahen trotz des geschockten Ausdrucks in ihnen klar aus, aber so gut kannte sie sich mit Drogen und deren Wirkung nicht aus. Ihr Schulkamerad schwitzte und atmete schwerfällig, als würde er nicht genug Luft bekommen, zitterte. Hatte er eine Panikattacke? Einer von Zuzannas entfernteren Cousins litt aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung manchmal unter solchen, aber der fühlte sich nicht verfolgt. Was war bloß in der kurzen Zeit seit Raphaels Verschwinden geschehen, das ihn derart aufwühlte? War er vielleicht überfallen worden?

Sie musste versuchen, beruhigend auf ihn einzuwirken, was sich schwierig gestaltete: Ohne weitere Vorwarnung warf Raphael sich herum und rannte die gesamte Straßenlänge hinunter, bevor er scharf in eine schmale Gasse abbog. Nach einer verwirrten Sekunde folgte Zuzanna ihm im Laufschritt.

„Raphael! Raphael, jetzt warte doch mal!“, rief sie laut und mehrere Touristen sahen zu ihr. Super. So gut wie niemals zog sie Aufmerksamkeit auf sich, aber ausgerechnet jetzt starrte man sie an.

„Wir proben … für ein … Theaterstück“, keuchte sie der internationalen Menge auf Deutsch zu. Warum genau ihr diese falsche Mitteilung überhaupt wichtig war, wusste sie nicht. Als sie ebenfalls um die Ecke bog, sah sie ihren Mitschüler gerade noch ein paar Treppenstufen hochrennen und in einem Hauseingang verschwinden. Nur wenig später stand sie bereits selbst vor diesem. Die Tür war wohl verschlossen, denn ihr Schulkamerad war noch da, hatte sich in die Ecke gepresst und zuckte bei ihrem Anblick erschrocken zusammen, dabei musste er ihre wiederholten Rufe doch gehört haben. Seine rechte Hand umklammerte nun zusätzlich zu einem Teil der Ledertasche sein Handy.

„Na toll! Jetzt kann ich dich rausnehmen und du machst trotzdem nichts?“, fauchte er das Gerät verständnislos an. „Du bist doch vollständig aufgeladen!“

„Was … ist denn … eigentlich los?“ Zuzanna schnappte nach Luft. Sie war nicht komplett unsportlich,   tanzte gerne, wenn niemand hinsah, machte Pilates und ein wenig Zumba, aber Ausdauersport wie Rennen war noch nie ihr Ding gewesen.

Statt einer Antwort packte Raphael sie am Arm und zog sie zu sich. Instinktiv griff Zuzanna nach seiner Hand, machte sich mit einem unwilligen Laut los und trat die drei zum Eingang führenden Treppenstufen wieder herunter. Die Situation war ihr nicht geheuer. Schnell sah sie sich um. Die Haustür hinter seinem Rücken war geschlossen, die Gasse bis auf sie beide leer, das Zentrum der Altstadt jedoch nicht weit entfernt. Wenn sie schrie, würde man sie hoffentlich hören. Der Gedankengang war generell logisch, aber in Bezug auf ihren Klassenkameraden erschien er ihr plötzlich absurd. Raphael war mit Bestimmtheit kein Psychokiller, hatte sie auch sofort erschrocken losgelassen und wirkte nicht aggressiv. Sicherlich hatte er lediglich Angst.

„Tut … tut mir leid“, keuchte er wie zur  Bestätigung, wagte sich ein Stück vor, um die Gasse hinabsehen zu können, und verbarg sich anschließend wieder in der Türnische. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten und er machte den Eindruck, als würde er fieberhaft nachdenken.

Zuzanna sah ihn genauer an. Seine Haare waren zerzaust, er schwitzte nach dem kleinen Sprint stärker und eine rote Schramme zierte die rechte Seite seines Kinns. Nach einem kleinen Flirt mit einem Mädchen sah das nicht gerade aus. Gehörte das komische blonde Ding zu einer Verbrecherbande und hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt? Bei diesem Verdacht spürte Zuzanna Wut in sich aufsteigen. Oh, sie könnte sie bei der Polizei notfalls sehr gut beschreiben, dieses Miststück! Aber wenn es ein Überfall gewesen sein sollte – wieso hatte Raphael dann plötzlich eine Extratasche dabei? Ob da Diebesgut drin war und er sie sich einfach geschnappt hatte? Oder war er zurück ins Hotel gegangen, um die Tasche zu holen? War er dafür überhaupt lange genug weggewesen? Zuzanna zwang sich zur Ruhe. Ihre überbordenden Vermutungen brachten niemandem etwas. Sie brauchte Fakten.

„Was ist denn nun passiert?“, fragte sie möglichst sanft und trat dichter an ihn heran. In ihrer Tasche suchte sie dabei nach der Packung Taschentücher, die sich irgendwo darin befinden musste. Desinfektionsmittel und ein Pflaster wären natürlich besser, nur führte sie so etwas nicht mit sich.

Raphael erwachte aus seiner vorübergehenden Starre, fuhr herum, rüttelte an der Tür. Sein Blick flog wild umher, bevor er sich wieder schwer atmend auf Zuzanna konzentrierte, die nun selbst ihr Handy herausgeholt hatte.

„Was machst du da?“, stieß er aus. „Lass das!“

„Ganz ruhig“, sie hob beschwichtigend eine Hand. „Ich wollte dir anbieten, die Polizei zu rufen, falls … hat man dich … bist du überfallen worden?“

Er schnaubte. „Wenn es nur das wäre!“ Er beugte sich ein weiteres Mal vor, sah die Gasse auf und ab und presste sich wieder an die Tür, machte eine winkende Bewegung mit einer Hand.

„Könntest du bitte hier rauf kommen?“ Er wies auf den freien Platz neben sich. „Bitte. Sie hat uns zusammen gesehen, vielleicht erkennt sie dich wieder. Ich muss … ich muss meine Sachen abholen und irgendwie zum Bahnhof kommen, aber vermutlich sucht sie schon nach mir und – bitte komm hier rauf! Ich tue dir nichts! Was denkst du denn von mir?“

Wenn auch widerwillig, kam sie seiner Bitte letztendlich nach und sah ihn durchatmen, nachdem er die Straße noch einmal in Augenschein genommen hatte.

„Also bist du überfallen worden?“, erkundigte sie sich sanft. „Weißt du, dann sollten wir wirklich die Polizei rufen, denn –“

„Ach was, die Polizei, die kann da auch nichts ausrichten!“, behauptete er verzweifelt. „Oder kann die neuerdings zeitreisen??“

Bitte was?

„Pass auf“, er atmete betont tief durch, „ich weiß, dass sich das absolut krass anhört, ich versteh es ja selbst nicht ganz, aber …“ Er ließ die Luft mit einem Mal entweichen, schloss kurz die Augen, um sich wohl besser konzentrieren zu können, und Zuza gewährte ihm geduldig diese Zeit der Sammlung.

„Also, wie du ja weißt, bin ich um die Ecke, um nach meiner Karte zu suchen“, begann er kurz darauf zu berichten, „und kaum komme ich an dieser Minigasse neben der alten Bäckerei vorbei, ist da auf einmal dieses blonde Mädchen in einem der Hauseingänge und fragt mich, ob ich etwas verloren habe. Als ich total baff an sie herangehe, um ihr zu antworten, packt mich jemand von hinten und presst mir ein feuchtes Tuch auf Mund und Nase.“

Zuzanna fasste sich entsetzt an die Brust. Manchmal fühlte es sich nicht gut an, mit seinen Vermutungen richtig zu liegen.

„Ich weiß nicht genau, was es war“, fuhr Raphael fort, „aber sicherlich irgendeine Droge, denn ich war plötzlich vollkommen willenlos, hab mich gefühlt, als wäre ich volltrunken, und kein sinnergebenes Wort mehr hervorgebracht. Aber ich kann mich erinnern, dass mich zwei Männer in altertümlicher Kleidung halbwegs getragen haben und zwar zu einem Gebäude und dort in eine alte Küche. In der befand sich eine offenstehende Tür aus der ein seltsamer, Wirbel bildender Nebel drang und mit einem Mal sind wir da drin und als ich wieder einigermaßen zu mir komme, befinde ich mich plötzlich in diesem altertümlichen Haus – also ein anderes als das zuvor, denke ich, denn dessen Einrichtung sah aus wie die aus dem Rokoko oder so. Statt des Mädchens steht eine blonde Frau vor mir, ebenfalls in Kleidern des Rokoko oder was auch immer, die behauptet, eine Magierin zu sein, die meine Hilfe braucht, und dann ist da noch dieser Kerl in Herrenrock und Kniehosen, der mir sagt, er wird mich umbringen, wenn ich nicht tue, was sie sagt.“

„Was?“, keuchte Zuzanna entsetzt. „Wieso?“

„Heftig, oder?“ Raphael schüttelte sich, als würde er versuchen, die grässliche Erinnerung loszuwerden. Aber konnte er sich an so etwas überhaupt erinnern? Das war doch alles nicht möglich! Zeitreisen? Magierinnen? So etwas gab es nicht in der Realität.

„Ich denke natürlich, dass mir nur jemand einen üblen Streich spielt, und lache für eine Weile, während ich versuche, mein Handy aus der Jackentasche zu holen. Aber ich kann es nicht richtig greifen und schon gar nicht herausfummeln und irgendwie hab ich plötzlich das üble Gefühl, dass die Frau vielleicht doch zaubern kann …“

„Aber das ist nicht möglich“, wandte Zuza ein. „Das war sicherlich nur ein Trick.“

Das dachte ich auch, aber es wurde mir so gruselig, dass ich den Mann zur Seite geschubst habe und einfach zur Tür gerannt bin und als ich die aufreiße …“ Er schluckte schwer, musste einen tiefen Atemzug nehmen und kräftig schlucken, bevor er weitersprechen konnte. „Da waren Kutschen, Zuzanna, aber nicht diese Touri-Dinger, sondern echte, alte und weitere Menschen, die so angezogen waren wie Leute im Rokoko und einfach alles sah so aus, als hätte man mich in einen historischen Film geworfen. Und im nächsten Moment packt man mich von hinten und zieht mich wieder ins Haus und meine eigene Kleidung sieht auf einmal so aus, als wäre sie schon Jahre ununterbrochen getragen worden. Guck dir mal meine Jacke an!“ Er zupfte nachdrücklich an seinem Kragen.

Zuzanna musste zugeben, dass die Jacke in der Tat sehr ‚used‘ wirkte, aber das war doch momentan ‚in‘. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie seine Kleidung bei ihrem gemeinsamen Spaziergang nicht so genau unter die Lupe genommen, um sagen zu können, ob diese jetzt anders aussah als zuvor.

„Die Zauberin sagte mir, das würde immer passieren, wenn man moderne Sachen in alten Zeiten anbehält und sie andere, nicht Eingeweihte sehen lässt“, führte Raphael seine ungeheuerliche Geschichte fort, „und dass ich sterben würde, wenn ich zu lange in der Vergangenheit steckenbleibe. Aber sie hätte keine andere Wahl und würde mich erst zurück in meine Zeit bringen, wenn ich tue, was sie mir aufträgt. Kannst du dir das vorstellen?“ Er lachte verzweifelt, während Zuzanna nichts anderes übrigblieb, als den Kopf zu schütteln. So was Irres hatte sie noch nie zuvor gehört.

„Ich hab echt Schiss bekommen“, berichtete Raphael weiter, „und natürlich eingewilligt, in der Hoffnung, mich irgendwann befreien zu können. Die Frau hat dann die Tür einer Kammer geöffnet, in der sich erneut der seltsame Nebel befand, und als wir hineingingen, kamen wir wieder in dieser Zeit raus. Zwei ihrer Helfer haben mich an den Armen gehalten, damit ich nicht weglaufen kann, und wir sind zu einem alten, baufälligen Gasthaus mit einem Hinterhof gegangen. Leider war das ein Schleichweg durch ganz kleine Gassen. Ich hatte gehofft, einfach um Hilfe rufen zu können, aber da war niemand außer uns. Jedenfalls befand sich dort an der Rückseite des Hauses eine alte, verrostete Tür. Die Hexe holte einen Schlüssel und eine komische kleine Standuhr, wie man sie sich auf den Kaminsims stellt, aus der Ledertasche, die sie bei sich trug,  und hat mit beidem die Tür öffnen können, erneut mit diesem Nebel und wir sind dann hinein – nur sie und ich – und alles wurde noch viel seltsamer …“ Er fuhr sich zitternd mit einer Hand durch die Haare.

„Wieso?“, hakte Zuzanna vorsichtig nach.

„Der Keller, in dem wir ankamen, war uralt und da lagen Dinge aus längst vergangenen Zeiten herum, Rüstungen und Waffen und ein paar Truhen und Fässer standen da auch. Aber das alles hat die Magierin gar nicht interessiert. Sie hielt auf eine Wand zu, in der sich eine Gravur aus seltsamen Symbolen und einem Wappen in der Mitte befand und sie meinte, ich müsste dort ein Geheimversteck für sie öffnen, danach würde sie mich unversehrt gehen lassen.“ Wieder zerwühlte er sich nervös die Haare. „Das klingt noch abgefahrener, wenn ich es erzähle.“

Zuzanna versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln, was schwierig war. Die Geschichte war in zweierlei Hinsicht unglaublich: spannend und irre. War Raphael verrückt geworden?

„Und das hast du getan? Also das Versteck geöffnet?“ Wahrscheinlich war es gar nicht klug, ihn auch noch durch Nachfragen in seinem Glauben an das Geschehene zu bestätigen, aber nun war es heraus.

„Selbstverständlich nicht! Sie meinte nämlich, wir bräuchten dafür mein Blut!“ Raphael wurde nun sogar noch bleicher als zuvor. „Sie hat einen Dolch gezückt und da bin ich durchgedreht. Ich hab sie weggestoßen und sie ist mit dem Kopf gegen die Wand geknallt und erst mal liegen geblieben. Ich hab mir die Tasche mit der Standuhr gekrallt, weil ich dachte, dass sie mir ohne das Teil vielleicht nicht folgen kann, und bin raus aus der Tür, durch den Nebel. Mein Gedanke war, die Tür hinter mir wieder zu verschließen, aber da waren natürlich noch ihre Komplizen draußen, die vollkommen verdattert waren, dass ich allein auftauche. Durch deren Verwirrung hatte ich die Zeit, wegzurennen und mich unter eine Gruppe von Touristen zu mischen. Und jetzt … jetzt bin ich hier … und du glaubst mir nicht.“ Er seufzte tief.

„Ich … also ich versuche es“, gab Zuzanna zögernd zurück, auch wenn das nicht so ganz der Wahrheit entsprach, denn Raphaels Geschichte konnte so nicht passiert sein. Wahrscheinlich hatte die Droge, mit der man ihn betäubt hatte, eine Halluzination nach der anderen ausgelöst. Aber was hatte es mit dieser überaus seltsamen Entführung auf sich? Soweit sie wusste, war Raphaels Familie nicht übermäßig reich, also machte das Erpressen von Lösegeld wenig Sinn. Natürlich gab es wesentlich krankere Menschen als simple Entführer da draußen, doch Zuzannas Verstand weigerte sich, etwas davon bezüglich Raphael in Erwägung zu ziehen. Und schon gar nicht hier, an diesem idyllischen Ort!

Fakt war dennoch, dass das blonde Miststück Raphael in eine Falle gelockt hatte. Aber Magie, eine Zauberin und Reisen durch die Zeit? Das war zu absurd!

„Ich weiß doch, was ich gesehen habe, verdammt noch mal!“, fuhr er auf, wohl weil sie zu zweifelnd geschaut hatte. Gleich darauf biss er sich auf die Lippen und Zuzanna bemühte sich, ihre Gesichtszüge zu entspannen. „Sorry, tut mir leid.“

Sie zögerte, zuckte schließlich die Schultern, als wäre es nicht weiter schlimm, auch wenn sie sich in Wirklichkeit immer unwohler und hilfloser fühlte. „Ist schon okay. Du, meine Tante wohnt nicht weit weg, gleich unten in Petite Venise und –“

Kurzzeitig blitzte Hoffnung in Raphaels Augen auf, doch er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist zu weit, zu riskant.“ Er kaute auf seiner Unterlippe herum, schien mit seinen Gedanken wieder weit weg.

Zuzanna unterdrückte ein Seufzen. Sie brauchten Hilfe, auch wenn Raphael das nicht einsehen wollte, und kurz darauf hatte sie auch schon eine Idee. „Pass auf, die Schramme in deinem Gesicht sieht nicht so gut aus und ich würde vorschlagen, dass wir da vorne in einem der Läden nach Verbandszeug –“

„Nein!“, wehrte er, wie erwartet, sofort entschieden ab und drückte sich panisch mit dem Rücken an die Haustür. „Du verstehst das nicht, aber die sind noch irgendwo hier und ich gehe ganz bestimmt nicht zurück in diesen Keller und lasse mich aufschlitzen!“

Zuza biss sich auf die Lippen, während Raphael wieder von der Zauberin zu erzählen begann. So kamen sie nicht weiter. Sie mochte fantastische Erzählungen, aber a) lieber von schönen Dingen und b) war seine Geschichte doch sehr verworren. Schock eben.

„Hör zu“, sie straffte die Schultern. „Wenn du nicht mitkommen magst, ist das okay. Bleib hier in Sicherheit und ruh dich aus, ich kann dir auch gerne mein Handy geben, weil ja deins nicht funktioniert, dann kannst du jemanden anrufen …“

Vielleicht seine Eltern oder einen Freund, jemand, der  mit seinem Zustand besser umgehen konnte – falls er so etwas öfter hatte. Er schüttelte allerdings prompt den Kopf.

„Jedenfalls gehe ich jetzt da vorne zur Ecke“, blieb sie standfest, „da sind Läden und einer wird bestimmt einen Erste-Hilfe-Kasten  haben.“ Außerdem würde sie, sobald sie außer Sichtweite war, Gracjan anrufen. Oder falls er nicht ans Telefon ging, ihre Tante, um sich zu beratschlagen. Marine war eine kluge Frau und wusste bestimmt eine Lösung. „Dann komme ich zurück und wir – “

„Nein!“ Er schüttelte erneut entschieden den Kopf. „Hast du mir nicht zugehört?!“

Doch, Raphael.“ Sie nickte. „Aber ich glaube nicht, dass die hinter mir her sind.“

„Aber –“, fuhr er erneut auf, doch sie hob Einhalt gebietend eine Hand und sah ihn fest an.

„Raphael, du machst mir Angst!“, gestand sie offen ein.

Für einen Augenblick erstarrte er, rückte daraufhin mit einem betroffenen Blick noch weiter von ihr ab. „Tut mir leid, ich wollte nicht – “

„Schon gut“, setzte sie beruhigend hinzu. „Bleib hier, bitte, ja? Ich bin nur ganz kurz weg, okay? Da vorne an der Ecke ist sofort ein kleiner Zeitungsladen, erinnerst du dich?“

Ein vages Nicken war die Antwort.

„Und da gehe ich jetzt kurz hin“, wiederholte sie langsam, in die betreffende Richtung deutend, „frage nach einem Pflaster und wenn sie keins haben, bin ich auch gleich wieder bei dir, in Ordnung? Du kannst mich fast die ganze Zeit sehen und der Eingang ist direkt um die Ecke. Ja?“

Du liebe Güte, sie redete mit ihm, als wäre er ein Kleinkind. Offensichtlich schien er das genauso zu sehen, denn seine Augenbrauen zogen sich zusammen, bevor eine von ihnen nach oben wanderte.

„Du denkst, ich spinne“, stellte er trocken fest.

Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Nein.“ Gut, das war ein bisschen gelogen, aber wenn er wirklich ein mentales Problem hatte, wollte sie sich bestimmt nicht abfällig ihm gegenüber äußern. „Ich glaube nur, dass du mir nicht sagen kannst oder willst, was wirklich passiert ist.“

Das oder er wusste es nicht. Die Theorie mit den Drogen war genauso wenig vom Tisch. Aber vielleicht war er auch hingefallen und hatte sich den Kopf angeschlagen? So etwas konnte durchaus eine zeitweise Amnesie auslösen, hatte sie mal gehört. Es brachte allerdings niemandem etwas, wenn sie hier unqualifizierte Diagnosen zu stellen versuchte.

„Was wirklich … aber ich habe dir …“ Raphael starrte sie an und in seinem Kopf schien sich ein ähnliches Gedankenkarussell zu drehen wie in ihrem eigenen.

„Okay, wie du willst“, sagte er schließlich widerwillig. „Aber bitte beeil dich und sei vorsichtig!“

„Versprochen!“, erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln. „Und die hier …“, sie stellte die Tüte mit den sicherlich schon kalten Flammkuchen neben ihm ab, „… lasse ich bei dir. Iss ruhig etwas. Danach geht es dir bestimmt etwas besser.“

Er nickte zögernd und beugte sich schnell vor, was Zuzanna dazu brachte, sich ruckartig zurückzulehnen. Verblüfft sah er sie an, bevor der Groschen fiel.

„Ich tu dir nichts“, sagte er ruhig, fast ein wenig beleidigt, hob abwehrend die Hände und streckte anschließend eine langsam aus, um ihr behutsam die Kapuze ihrer Jacke über ihren Kopf zu ziehen. Dabei berührten seine Finger kurz ihr Gesicht und hinterließen ein Kribbeln auf ihrer Haut. Ein sehr angenehmes Kribbeln. Am liebsten hätte sie nach seiner Hand gegriffen, traute sich aber nicht. Das war eindeutig der falsche Moment für durchdrehende Teenagerhormone.

„So erkennen sie dich auf keinen Fall sofort“, erklärte er sein Handeln.

Zuzanna musste trotz der beunruhigenden Situation grinsen. „Das würde eh keiner. Ich falle den Leuten nie auf, weil ich ein Allerweltsgesicht habe.“

Raphael schien etwas erwidern zu wollen, doch sie hatte sich schon fast ganz herumgedreht und marschierte die Gasse herunter, das Handy in ihrer Jackentasche wie einen Rettungsanker fest umklammernd. Am Ende angelangt sah sie noch einmal über die Schulter, doch von Raphael war nichts zu sehen, auch wenn sie sicher war, dass er sie beobachtete. Mit der linken Hand machte sie ein verstohlenes Peace-Zeichen hinter ihrem Rücken und umrundete die Hausecke.

Sie hatte sich richtig erinnert, nur ein paar Meter entfernt war der kleine Zeitungsladen. Zuzas Blick fiel auf einen jungen Mann in seltsamen Klamotten, der davor herumlungerte. Vermutlich gehörte er zu der Gruppe Rollenspieler, die ihnen vorhin über den Weg gelaufen waren. Dennoch beschlich sie ein ungutes Gefühl, denn wenn zumindest ein paar Details von Raphaels verrückter Geschichte stimmten, war er vielleicht genau von dieser Gruppe überfallen worden.

Kurz vor dem Eingang des Ladens stellte sich der Mann ihr urplötzlich in den Weg und sie wich erschrocken zurück. Im nächsten Augenblick tauchte hinter dem Kerl eine Frau in ebenso seltsamen Klamotten auf. Sie war etwa Mitte Dreißig, hatte mehr als hüftlanges blondes, gelocktes Haar … Entsetzt sog Zuzanna die Luft ein, warf sich herum und rannte los. Sie wusste einfach, dass es sich um das Mädchen handelte, wenn es auch plötzlich um zwanzig Jahre gealtert war. Diese hellen Augen hatte sie sofort erkannt … Was für ein Blödsinn! Viel wahrscheinlicher war, dass es sich es sich um ein Mutter-Tochter-Diebes-Duo handelte.

Fußgetrampel hinter ihr verriet ihr, dass man ihr folgte, und sie legte an Tempo zu.

Bloß nicht in die Gasse!, schoss es ihr durch den Kopf und sie schlug einen Haken, rannte in eine andere Richtung, direkt durch eine Touristengruppe hindurch. Panik hatte sie erfasst, erschwerte ihr das logische Denken. Sie wusste nur mit Bestimmtheit, dass sie hier weg und Hilfe suchen musste. Sie würde zu Tante Marines Wohnung laufen, die nicht so weit entfernt war, wie Raphael dachte.

Der Gedanke, sich einfach an einen Passanten zu wenden, kam ihr in ihrer Angst zunächst nicht. Alle Sinne waren auf Flucht ausgerichtet. Auch ihre Lungen spielten für eine Weile mit. Erst als sie an der alten Bäckerei vorbeiraste, besann sie sich eines Besseren. Sie musste doch nur in eines der Geschäfte laufen und um Hilfe bitten! Abrupt stoppte sie ab und lief die paar Schritte zum Eingang des nächsten Ladens zurück. Den dunklen Schatten schräg hinter sich bemerkte sie viel zu spät.

In der nächsten Sekunde schlang sich ein Arm um ihre Körpermitte und eine Hand presste sich fest auf ihren Mund. Nein, nicht nur eine Hand. Da war auch ein feuchtes, seltsam riechendes Tuch … Grundgütiger! Die Droge! Zuzanna versuchte sich freizukämpfen und zu schreien, doch beides misslang ihr kläglich, denn was immer auch in dem Tuch war – es wirkte schnell. Ihre Glieder wurden bleischwer, ihr schwindelte und ihre Sicht verschwamm.

„Ja, ja, es ist alles gut“, hörte sie eine Frau aus der Ferne sagen. „Es ist nur der Kreislauf. Wir bringen sie gleich zu einem Arzt. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben das im Griff.“

Zuzanna wollte widersprechen, doch ihre Lippen und Zunge bewegten sich nicht. Stattdessen wurde ihr schwarz vor Augen und sie verlor endgültig die Besinnung.

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