Leseprobe ‚Magisch Verschwunden‘
Auf eigene Faust
Robin schüttelte fassungslos den Kopf. Sicherlich schon zum dritten Mal. Aber sie hatte ja auch allen Grund dazu, schließlich war es noch nie zuvor vorgekommen, dass ein Junge sich für sie prügelte. Ihre Ehre verteidigte. Sie beschützte, obwohl er seinem Gegner rein kräftemäßig deutlich unterlegen war.
„Du bist ein Idiot!“, stieß Robin bewegt aus, während sie das Taschentuch, das sie hastig aus ihrem Rucksack gekramt hatte, weiter auf die blutende Wunde an Wills Jochbein drückte. Langsam begann sein gesamtes Auge zuzuschwellen. Wo zur Hölle blieb Emely mit dem Beutel Eis aus der Cafeteria?
„Ja, aber ein heldenhafter, oder?“, scherzte er und versuchte sie anzugrinsen. Seine blutende Unterlippe hinderte ihn jedoch daran und ließ ihn stattdessen schmerzerfüllt das Gesicht verziehen.
Robin kniff die Lippen zusammen, musste aber doch nicken. Felix, einer der größten Angeber und Machos der Oberstufe hatte sie in der Pause als Neger-Nerd bezeichnet und war sich dabei super witzig vorgekommen, weil das so ähnlich klang wie Mega-Nerd, der sie zweifelsfrei ja ebenfalls sei. Vor den Lehrern hatte das feige Drecksstück später behauptet, auch genau das gesagt zu haben. Er sei doch kein Rassist und das alles nur ein schlimmes Missverständnis. Und dann hatte er gejammert und herumlamentiert, weil seine Nase angeblich gebrochen und Will ein armer Irrer sei, der eingesperrt gehöre. Mittlerweile befand er sich im Büro des Direktors und wenn man ganz leise war, konnte man ihn hier auf dem Flur immer noch gedämpft herumjammern hören.
Robin interessierte das nicht weiter – nun gut, wenn sie ehrlich war, hatte Felix’ blutende, geschwollene Nase in ihr ein Gefühl unbändiger Freude entfacht – war es doch viel wichtiger, dem Jungen beizustehen, der am heutigen Tag zu ihrem ganz persönlichen Helden avanciert war.
„Hoffentlich will er sich dafür nicht später an dir rächen“, sorgte sie sich.
„Er wird mich schon nicht umbringen“, beruhigte Will sie. „Außerdem kennen sich unsere Väter und die werden bestimmt noch sowohl mit uns als auch miteinander sprechen.“
„Und wenn ihm das egal ist?“
Will hob die Schultern. „Kriegt er halt noch eins auf die Nase.“
„Das war ein Glückstreffer, Will“, merkte sie an.
Er machte ein empörtes Gesicht. „Sagt wer?“
„Jeder, der dich und ihn kennt?“, schlug sie vor. Felix war nicht nur einen Kopf größer und auch ungefähr doppelt so breit wie der eher schmal gebaute Will, sondern hatte auch jahrelanges Training durch zahllose Schulhofraufereien.
Ihr Freund fasste sich übertrieben gekränkt an die Brust. „Autsch – das tut weh. Die Prinzessin verschmäht den Ritter, der sie gerettet hat.“
„Ich dachte, ich bin Robin Hoodie und damit mein eigener Held“, grinste sie.
„Bist du ja auch“, gab er ihr unversehens nach und seltsamerweise wurden seine Augen plötzlich ganz warm, zeigten vollkommen unverblümt einen Ausdruck inniger Zuneigung, „aber vor allen Dingen bist du Familie. Und für die Familie tut man einfach alles – ganz gleich, welche Konsequenzen das nach sich zieht.“
Robin stockte der Atem und in ihrer Brust breitete sich eine angenehme Wärme aus. Zweifellos trug ihr Gesicht nun den gleichen zugeneigten Ausdruck wie das seinige und sie fühlte sich Will so nahe wie noch nie zuvor in ihrem Leben …
‚Für die Familie tut man einfach alles – ganz gleich, welche Konsequenzen das nach sich zieht.‘ Das waren die Worte aus ihrer fast zwei Jahre alten Erinnerung, die sich am stärksten eingeprägt hatten und Robin nun dazu brachten, so schrecklich unvernünftig zu sein und entgegen Manjas eindringlichem Rat, die Füße bis zu ihrer Ankunft stillzuhalten, zu handeln. Abgesehen von ihrer nervigen Verliebtheit in ihn, die nun schon beinahe drei Jahre anhielt und statt schwächer immer schlimmer zu werden schien, zählte Will nun mal zu ihrer Wahl-Zweitfamilie. Er war ein wahnsinnig wichtiger Bestandteil ihres Lebens, um den sie sich furchtbare Sorgen machte, und er hatte es nicht verdient, dass sie, nur weil ein paar unerklärliche Dinge vor sich gingen, untätig herumsaß und Däumchen drehte, während er weiterhin in großer Gefahr schwebte. Und vielleicht irrte ihre Cousine sich ja auch und dieses … Tor in der Wand war gar nicht magisch und führte doch nur in einen geheimen Raum oder Gang, den man von außen durch optische Täuschung nicht erkennen konnte. Einen sehr hellen Raum, wenn man das gleißende Licht bedachte, das aus dem Gemälde herausgekommen war.
Robin versuchte das mulmige Gefühl in ihrem Bauch zu verdrängen und trank noch einen Schluck von ihrem Tee, bevor sie auf ihre Armbanduhr sah. Endlich war es kurz vor Mitternacht und die Schließzeit somit nur noch etwa eine Viertelstunde entfernt. Unter der Woche machte das Restaurant bereits um zehn Uhr zu, hatte an den Wochenenden sowie manchen Montagen in der Hauptsaison jedoch länger geöffnet.
Ein Blick durch den großen Hauptraum zeigte Robin, dass bis auf sie nur noch ein weiterer Gast anwesend war, ein älterer Mann, den sie bereits beim letzten Mal bemerkt hatte. War das nicht sogar derselbe Kerl, der sie vorgestern auf der Straße vor dem Wirtshaus angesprochen hatte?
„Oy, James!“, rief die Wirtin, während sie ein paar Gläser ins Regal hinter der Theke räumte, und der Mann sah erst beim zweiten Ansprechen auf. „Das nächste Ale gibt es erst morgen.“
„Und wenn du mir nur noch ein klitzekleines –“, begann der Angesprochene, wurde aber sogleich freundlich unterbrochen.
„Geh nach Hause zu deiner Frau und sprich dich endlich mit ihr aus. So ein Streit sollte nicht zu lange dauern.“
„Ist meine Sturheit diesbezüglich nicht gut fürs Geschäft?“, fragte der Alte listig und die Besitzerin lachte.
„Sicher, aber schlecht fürs Herz. Vor allem für deines, also ab.“
„Ach, Molly, wenn ich nicht schon verheiratet wär …“, brummte der Mann ungeachtet seines deutlich höheren Alters, legte ein paar Scheine und Münzen auf den Tisch und schlurfte von dannen.
Robin nutzte den Moment und ging ihm hinterher. Ihr Tee war bereits bezahlt und zu ihrem großen Glück hatte die Wirtin aufgrund der geringen Gästeanzahl bereits vor einer halben Stunde den Laden gewischt und den Eimer anschließend wieder Richtung Abstellkammer getragen. Augenscheinlich tat sie das dann doch selbst und nicht nur morgens.
„Danke und noch einen schönen Feierabend!“, rief Robin und zog sich ihre Kapuze über, während sie auf den Ausgang zulief.
„Mach’s gut, Mädchen mit der Kapuze“, vernahm sie die Stimme der Wirtin noch als sie, sobald sie um die Ecke Richtung Ausgang verschwunden war, anhielt.
„O danke, das ist aber nett, dass Sie mir aufhalten“, bedankte sie sich beim Rücken des alten Mannes, der gerade eben durch die Ausgangstür geschritten war. Der bekam das Gott sei Dank aufgrund seines Alkoholpegels nicht mit und Robin wartete, bis die Tür mit einem mittellauten ‚Rumms‘ ins Schloss fiel, bevor sie kurz innehielt.
Vom Gastraum her war weiterhin das Klackern von Gläsern zu hören und so schlich sie einmal mehr hinab, die knarrende Stufe tunlichst auslassend. Flink öffnete sie die Tür zum Damen-WC und verschwand in dem kleinen angrenzenden Putzraum, der – wie zuvor – nicht abgeschlossen war. Gut, hier drinnen konnte man wenig mitgehen lassen, aber es könnte sich ja jemand so wie sie verstecken, um zu versuchen, die Tageseinnahmen oder einfach ein Fässchen Bier oder ein paar der zahlreichen Whisky-Flaschen zu stehlen. Über anderes, was sich heimlich zum Ladenschluss in fremden Läden versteckende Menschen aushecken könnten, wollte sie lieber nicht nachdenken. Vermutlich war sie auch einfach nur zu sehr Großstadtkind. Hier in so einem Kaff passierte doch bestimmt nur alle Jubeljahre mal etwas Schlimmeres als der Diebstahl eines Gartenzwerges. Zum Beispiel, dass ein junger Mann spurlos verschwand.
Robin schluckte. Da taten sich die Abgründe des kleinbürgerlichen Miteinanders auf. Ihr Gedankenkarussell drehte sich weiter. Was war, wenn das Wirtshaus und seine Wirtin doch nichts mit Wills Entführung zu tun hatten? Wenn die Wirtin aus einem anderen Grund die Polizei angelogen hatte und das Auffinden seiner Halskette nur ein Zufall gewesen war? Vielleicht hatte die blöde Kathy Hastings sie ja auch nur bewundert und näher anschauen wollen und nett, wie er war, hatte er sie abgenommen, ihr gegeben und sie hatte den Schmuck unachtsam fallen lassen? Und zerrissen? Eher nicht. Außerdem war sie gar nicht dabei gewesen. Robin musste endlich damit aufhören, ständig über diese Kommilitonin von Will nachzudenken!
Sie schloss kurz die Augen, um sich auf ihre Mission zurückzubesinnen. Die Wirtin war gestern Abend definitiv in dem Gemälde oder auch der Geheimtür in der Wand verschwunden, was überaus verdächtig war. Es konnte doch kein Zufall sein, dass etwas derartig Abgefahrenes genau dann vonstatten ging, nachdem ein junger Mann entführt worden war.
Robin hielt den Atem an und ihr Herz machte einen kleinen Hopser, als sich wie am gestrigen Abend die Tür der Damentoilette quietschend öffnete und die Wirtin nachsah, ob noch ein Gast in einer der Kabinen seinen Rausch ausschlief. Da Robin dieses Mal auf einen Rucksack verzichtet hatte (Handy und Schlüsselbund hatte sie in den Hosentaschen verstaut), um besser in die Kammer zu passen, war die Gefahr, die Putzutensilien versehentlich umzureißen und entdeckt zu werden, sehr viel geringer. Dennoch erstarrte sie vollkommen und schloss aus Angst sogar erneut die Augen.
Doch wie am Vorabend sah die Wirtin nicht in der Abstellkammer nach, bevor sie das Licht löschte und wieder verschwand.
Nachdem Robin ungefähr eine halbe Minute gewartet hatte, verließ sie ihr Versteck auf leisen Sohlen und schlich sich mit hämmerndem Herzschlag die dunkle Treppe hinauf, dabei die knarrende Stufe erneut geschickt auslassend. Allmählich konnte sie das im Schlaf, war aber voller Hoffnung, dass dieser Versuch, das Geheimnis der Wirtin zu lüften, endlich von Erfolg gekrönt sein würde. Ganz vorsichtig lugte sie oben um die Ecke. Im Licht, das die Straßenlaternen durch die großen, vergitterten Fenster des Wirtshauses warfen, konnte sie erkennen, wie die Wirtin sich gerade mit sorgenvollem Gesichtsausdruck und angespannter Körperhaltung eine schwere Ledertasche über die Schulter lud. Anschließend sah sie sich noch einmal in der Gaststube um.
Robin bewegte sich nicht, hoffte einfach, dass zu wenig von ihr zu sehen war, um sie zu entdecken. So schien es auch zu sein, denn der Blick der Frau streifte sie noch nicht einmal, bevor sie sich in Bewegung setzte und auf das große Gemälde an der Wand zu ging.
Robins Nervosität wuchs und ihre Kehle wurde ganz trocken. Die kreisförmigen Bewegungen, die die Wirtin vor dem Gemälde vollführte, waren ihr gestern entgangen, genauso wie das leise Murmeln der Frau, und dann geschah es: Das Bild wurde von einem hellen Leuchten durchbrochen, das innerhalb weniger Sekunden den kompletten Rahmen einnahm und sogar die Wirtsstube bis in den kleinsten Winkel erhellte. Aus dem Gemälde drang seltsamer Nebel und helle Funken zuckten in den Raum hinein, stiegen hinauf fast bis zur Decke, bevor sie erloschen.
Im Gegensatz zu Robin, die ihren Atem angehalten und die Augen weit aufgerissen hatte, zeigte sich die Wirtin von alldem vollkommen unbeeindruckt und stieg kurzerhand hinein in das Licht, wurde nur einen Wimpernschlag später gänzlich von diesem verschluckt.
‚Jetzt oder nie!‘, rief Robins innere Heldenstimme und sie eilte trotz ihrer Fassungslosigkeit los, erreichte das leuchtende Gemälde, noch bevor das Licht schwächer wurde, und sprang todesmutig hinein. Der Boden, auf dem ihre Füße landeten, war weicher und unebener als der des Gasthauses und sie stolperte ganz automatisch, strauchelte in einen größeren … Busch, griff reflexartig nach einem … Ast in ihrer Nähe und konnte sich gerade mal so auf den Beinen halten.
Wald. Sie konnte es kaum glauben, aber von einem Moment auf den anderen befand sie sich in einem dichten Wald! Über ihr war durch die zahlreichen Lücken im grünen Laubdach der Bäume ein sich langsam rosa färbender Himmel zu erkennen und die sehr tief stehende Sonne warf ihr warmes Licht durch die Zweige der hier überaus üppig wachsenden Pflanzen. Die Nacht war eindeutig noch nicht vollständig hereingebrochen, nirgendwo war auch nur der Umriss eines Hauses zu erkennen und die kühle Brise, die soeben in ihre Kleider fuhr, ließ sie frösteln. Sie war an einem vollkommen anderen Ort!
Manja hatte recht gehabt. Hier war Magie oder irgendetwas anderes Übernatürliches am Werk und Robin bekam es langsam mit der Angst zu tun. Sie war normalerweise ein eher rationaler, logisch denkender Mensch und das alles hier überforderte sie furchtbar, machte sie komplett handlungsunfähig. Aber vielleicht irrte sie sich ja auch und es gab eine plausible Erklärung für das leuchtende Gemälde … und den funkensprühenden Nebel … und den Wald … und ihre sekundenschnelle Reise hierher.
Sie schloss die Augen, versuchte ganz langsam und tief ein- und wieder auszuatmen. Sie musste sich unbedingt beruhigen, die Nerven behalten, denn in diesem Zustand konnte sie Will bestimmt nicht helfen.
Etwas knackte hinter ihr und sie fuhr erschrocken herum, starrte nur für einen Sekundenbruchteil in das bedauernde Gesicht der Wirtin, bevor sie von etwas am Kopf getroffen wurde und die Welt um sie herum sich in Windeseile verdunkelte.
„Dummes Kapuzenmädchen“, drang die Stimme der Frau aus weiter Ferne an ihre Ohren. „Das hättest du besser nicht tun sollen.“
***
Es waren Schmerzen, die Robin zurück in die Welt der Lebenden holten. Ein unangenehmes Stechen in ihren Schläfen, das sie mit einem leisen Stöhnen die Augen öffnen und ins durch das Fenster neben ihrem Bett fallende warme Licht der Sonne blinzeln ließ. Nein, nicht ihrem Bett, sondern irgendeinem, denn ihre Matratze bestand nicht aus Stroh und ihre Decke und das Kissen nicht aus … was immer das auch sein mochte.
Im Nu war Robin auf den Beinen – trotz der nun deutlich stärker werdenden Kopfschmerzen – und sah sich panisch in dem Zimmer um, in dem sie erwacht war. Es war klein und spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein Nachttisch mit Kerzenständer, ein Stuhl, ein Tischchen mit einer Vase, ein Schrank. Mehr nicht. Wo war sie? Wer hatte sie hergebracht? … Oh … ja … die Wirtin. Hatte die Frau sie etwa niedergeschlagen und entführt wie Will?
Robins Magen verdrehte sich und ihr Herz machte ein paar unangenehme Sprünge. Mit wenigen Schritten war sie an der Tür, drückte die Klinke hinunter und zog. Abgeschlossen. Da half auch kein verzweifeltes Rütteln, Drücken und Ziehen. Robin warf sich herum und stürmte hinüber zum Fenster. Zu ihrer großen Erleichterung war es weder vergittert, noch befand es sich allzu weit vom Erdboden entfernt. Erster Stock eines recht flachen, kleinen, altertümlichen Landhauses, soweit sie das von ihrer Position aus erkennen konnte. Wenn sie sich geschickt anstellte, konnte sie sich hinunterhangeln und mit einem kleinen Sprung unbeschadet den Grund erreichen.
Sie griff nach dem eisernen Fensterknauf in Form einer Schleife und versuchte ihn zu drehen, doch er bewegte sich keinen Millimeter. Robin hielt etwas atemlos inne, betrachtete den Knauf genauer und versuchte es dann noch einmal. Nichts. Das Ding war wie festgefroren. Sie unterdrückte einen Fluch, lief kurzerhand zum Nachttisch, ergriff den Kerzenständer und stellte sich mit etwas Abstand vor das Fenster.
„Du willst es ja nicht anders“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, holte aus und warf das schwere, harte Ding mit aller Kraft auf die Glasscheibe. Im nächsten Moment musste sie sich ducken, weil es wie von einer Gummischeibe abprallte, knapp an ihr vorbeiflog und scheppernd gegen die Wand hinter ihr krachte. Sie blinzelte ein paar Mal, konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Eisen gegen Glas – normalerweise gab es bei einem solchen Duell nur einen klaren Sieger, sofern es sich nicht um Panzerglas handelte.
„Zauberei“, hauchte sie.
„Ganz genau“, antwortete jemand hinter ihr.
Entsetzt fuhr Robin herum, stolperte gleich darauf rückwärts gegen den Schrank, weil urplötzlich die Wirtin vor ihr in der Tür stand. Sie lächelte zwar freundlich, aber ihr jähes und vor allen Dingen lautloses Auftauchen hatte Robin fast einen Herzinfarkt beschert.
Die gruselige Frau war dieses Mal in ein dunkelgrünes mittelalterliches Gewand gekleidet. Ihr feuerrotes lockiges Haar ergoss sich über ihre Schultern bis zur Taille und gab ihr ein sehr viel wilderes Aussehen als der strenge Knoten, den sie im Wirtshaus immer trug. Sie war unglaublich schön, das konnte Robin sogar in ihrem Schockzustand erkennen – was jedoch auch nicht dazu beitrug, ihre Angst abzubauen.
„Sie … Sie haben mich niedergeschlagen“, stammelte sie, „… mich entführt …“
„Ich musste sicherstellen, dass du nichts Unbedachtes tust, solange ich noch nicht weiß, was ich mit dir anfangen kann“, erklärte die Wirtin und schloss die Tür hinter sich, ohne sie abzuschließen.
„Mit mir anfangen …“ Robin brach ab, schüttelte fassungslos den Kopf. „Wer zur Hölle sind Sie und wo bin ich hier?“
Das Lächeln der Wirtin wurde noch ein Hauch freundlicher. So ein falsches Aas. Robin war sich jetzt sicher, dass sie hinter Wills Entführung steckte.
„Mein Name ist Adaline Morwen“, stellte die Frau sich sanft vor und kam langsam auf sie zu. Von wegen ‚Molly‘. „Und du befindest dich derzeit in meinem Heimatdorf Eostra. Dir droht von mir keine Gefahr. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, denn alles, was ich will, ist mit dir reden.“
„Ach ja?“, stieß Robin verärgert aus. „Und das hätten Sie nicht tun können, ohne mich niederzuschlagen?“
„Ich habe dich nicht gleich erkannt“, redete sich die Frau heraus, „sonst hätte ich anders gehandelt.“
Robin runzelte die Stirn und versuchte dabei nicht zur Tür zu gucken. Wenn die Wirtin sich noch ein kleines Stück auf sie zubewegte, kam sie vielleicht an ihr vorbei und konnte die Tür aufreißen und fliehen.
„Erkannt?“, wiederholte sie nur halbherzig.
„Du bist das Mädchen, das nach seinem Freund sucht“, erklärte Adaline, „nach dem Jungen, den man entführt hat. Du hast dich in meinem Gasthaus mit den Polizisten über ihn unterhalten.“
„Und?“, hakte Robin nach.
„Ich denke, wir können uns gegenseitig helfen.“
Da war er, der Schritt zu weit in ihre Richtung. Robin stürzte los, drückte die Türklinke hinunter und riss daran. Erfolglos. Erneut bewegte sich nichts.
„Nein, nein, nein, nein!“, entfuhr es Robin verzweifelt, während sie sinnlos weiter an der Klinke zog und rüttelte. „Das kann doch nicht sein!“
„Was kann nicht sein?“, erkundigte die Wirtin sich hinter ihr.
Robin wandte sich schwer atmend zu ihr um, hatte dabei große Mühe, sich zusammenzureißen. „Sie haben die Tür nicht abgeschlossen, nachdem Sie reingekommen sind!“, stieß sie aus. „Sie haben sie nur zugemacht! Das habe ich genau gesehen!“
„Menschen wie ich brauchen keine Schlüssel, um Türen zu verschließen“, stellte Adaline mit einem geheimnisvollen Lächeln klar. „Wenn ich nicht will, dass jemand einen Raum verlässt, passiert das auch nicht.“
Robin starrte die Frau sprachlos an, weiterhin schwer atmend und mit ihrer Fassung ringend.
„Du hattest das vorhin doch schon ganz richtig erkannt“, half die Wirtin ihr sanft dabei, zur richtigen Schlussfolgerung zu kommen.
„Z… Zauberei?“, brachte Robin nur ganz leise hervor. Es war so schwer das zu glauben – selbst als Adaline bestätigend nickte.
„Zauberei hat uns hierhergebracht und sie hält dich hier fest, solange ich das möchte“, ließ die schöne Frau sie wissen. „Also – wie wäre es, wenn du dich auf das Bett setzt und dir von mir eine kleine Geschichte erzählen lässt, die dir dabei helfen wird, all das, was geschehen ist und noch geschehen wird, besser zu verstehen?“
Robin bewegte sich nicht. „Wo ist Will?“, brachte sie schließlich mühsam beherrscht hervor.
„Auch die Antwort auf diese Frage ist Teil meiner Geschichte“, gab Adaline immer noch lächelnd zurück und wies nachdrücklich auf das Bett.
Zögerlich ging Robin auf sie zu. Vielleicht war es wirklich besser, erst einmal mitzuspielen, sich den Wünschen dieser … seltsamen Frau zu fügen.
„Geht … geht es ihm gut?“, konnte sie sich dennoch nicht verkneifen nachzufragen, bevor sie sich setzte.
„Ich denke schon“, war die wenigstens halbwegs beruhigende Antwort. „Er muss weder leiden noch große Ängste ausstehen. Er schläft.“
Robin runzelte verwirrt die Stirn. „Schläft?“, echote sie.
Adaline nickte.
„So wie … Dornröschen?“ Das klang bescheuert, aber ein besserer Vergleich war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.
Adaline dachte kurz nach und nickte dann. „Ja, ich denke, das kommt dem Ganzen recht nahe. Er ist tatsächlich mit einem ähnlichen Schlafzauber belegt worden, wenngleich die Zauber aus den Märchen natürlich nicht real waren und nie stattgefunden haben, soweit ich informiert bin.“
„Warum haben Sie ihm das angetan?“, entfuhr es Robin. „Warum haben Sie ihn entführt und …“
„Sagte ich nicht, dass ich dir eine kleine Geschichte erzählen möchte, die all deine Fragen beantworten wird?“, unterbrach ihre neue Bekanntschaft sie nun doch etwas lauter und ungeduldiger als zuvor.
„Ja, aber …“
„Ich bin hier nicht die Böse und auch nicht diejenige, die die Schuld an der Entführung deines Freundes trägt! Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um euch beiden zu helfen. Reicht dir das erst mal, um mir zuhören zu können?“
Robin schloss den Mund, dachte kurz nach und nickte schließlich. Wenn das mit dem Schlafzauber der Wahrheit entsprach und Will nicht leiden musste, konnte sie sich vielleicht wirklich die Zeit nehmen, Adaline zuzuhören – insbesondere wenn diese ihr tatsächlich weiterhalf.
Eigentlich widersprach es Robins Wesen zutiefst, eine Art Dornröschenschlaf auch nur annähernd in Erwägung zu ziehen – in ihrer Welt hieß so etwas Koma und bedurfte ständiger medizinischer Versorgung –, dann wiederum hatte sie eine Frau mehrmals in einem Bild verschwinden sehen und war ihr auch noch in eine Welt gefolgt, in der Magie offensichtlich existierte. So was rüttelte schon an den eigenen Prinzipien. Davon abgesehen hatte sie ja durch den Anruf bei ihrer Cousine Manja die Vorstellung, dass übernatürliche Dinge in der Tat existierten, bereits in ihren Verstand dringen lassen und sich sogar kompetente Hilfe von dieser versprochen. Außerdem war Adaline die beste Spur, die sie hatte, während Sergeant Dumpfbacke und sein Team weiterhin im Dunkeln herumtappten.
(…)