Leseproben

Leseprobe von ‚Geistermond‘

Hilfe, ich sehe Gespenster

Das Licht war hell, verdrängte die Dunkelheit, in die sie gefallen war, mit Leichtigkeit, glühte rötlich hinter ihren geschlossenen Lidern. Geräusche drangen an ihr Ohr. Stimmen in der Ferne, die näher kamen und sich dann wieder entfernten. Ein gleichmäßiges Piepen ganz in ihrer Nähe. Das Ticken einer Uhr.
Amy Parker fühlte sofort, dass sie nicht zuhause war. Die Laute waren ihr fremd und es roch eigenartig … nach Putzmitteln oder Ähnlichem. Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Lider wollten ihr nicht gehorchen, genauso wenig wie ihr restlicher Körper. Er war bleischwer, hielt sie fest, gefangen, während ihr Geist bereits hellwach war. Was war passiert? Wieso konnte sie sich nicht bewegen? Panik stieg in ihr auf und sie sammelte ihre Kraft, versuchte sich gegen den lähmenden Griff der Schwerkraft aufzubäumen, und fuhr tatsächlich endlich hoch, hinein ins Licht.
Ein paar Sekunden lang saß sie nur stocksteif da, schwer atmend, die Augen weit aufgerissen. Sie hatte sich nicht geirrt. Der Raum, in dem sie sich befand, war nicht ihr Zimmer. Weder das im Haus ihres Vaters noch das im Wohnblock des Internats. Weiße Wände, hellgrauer Linoleumfußboden, ein schlichter Schrank in einer Ecke. Neben ihr ein Rolltisch, auf dem ein Blumenstrauß und ein gerahmtes Foto von ihr selbst und ihren Eltern standen. Ihr Lieblingsfoto aus einer Zeit, zu der ihre Welt noch in Ordnung gewesen war. Das war sie nun schon seit ungefähr anderthalb Jahren nicht mehr. Schon gar nicht in diesem Augenblick, denn sie saß eindeutig auf einem Krankenhausbett und das Gerät, von dem das Piepen kam, befand sich nebst einem Tropf auf ihrer anderen Seite. Es waren ihre eigenen Herztöne gewesen, die sie beim Erwachen vernommen hatte.
Amy hob zögernd die Hand, um die Nadel, die sie mit dem Tropf verband, in ihrem Handrücken zu betrachten, doch zu ihrer Überraschung fand sie dort keine vor. Komisch. Sie fasste sich an die Brust, fühlte dort nur ihren Körper unter dem Stoff des T-Shirts. Keine Elektroden. Dennoch arbeitete das EKG neben ihr fleißig weiter. Sie runzelte verwirrt die Stirn, ließ ihren Blick an den Kabeln entlangwandern, die in der Tat unter dem schlichten Krankenhaushemd einer tief schlafenden Patientin verschwanden. Ihr stockte der Atem, als sie dem Mädchen ins Gesicht blickte. Sie sah auf sich selbst hinab, in ihr eigenes blasses Gesicht!
Amy sprang auf und stolperte laut nach Luft schnappend rückwärts von ihrem Bett weg. Ihre geweiteten Augen hafteten an der reglosen Gestalt, die dort lag. Das konnte nicht sein! Zweimal zu existieren war nicht möglich! Sie hob ihre Hände auf Augenhöhe. Normal. Menschlich. Ihre Hände. Gut, sie machten einen etwas blutleeren Eindruck und schimmerten seltsam, aber sonst … Moment mal! Sie schimmerten bläulich! Großer Gott! Sollte das bedeuten, dass sie … Nein! Es musste eine andere Erklärung dafür geben. Musste! Aber welche?!
‚Außerkörperliche Erfahrung‘ war der erste Begriff, der ihr in den Sinn kam. Davon hatte sie schon mal gelesen. Es gab einige Menschen, denen das bereits passiert war und die davon berichtet hatten. Unfälle, Operationen, Nahtoderlebnisse – das waren die Auslöser … Nahtoderlebnisse … Kein schönes Wort. Vielleicht träumte sie das alles ja auch nur.
Amy atmete stockend ein, schloss die Augen und öffnete sie dann ganz langsam wieder. Alles blieb wie gehabt. Sie starrte weiterhin auf ihren eigenen, bewegungslosen Körper. Ein dicker Verband ließ ihren Kopf unnatürlich groß erscheinen. Sie musste ihn sich irgendwo angeschlagen haben und lag wahrscheinlich deswegen hier im Krankenhaus … Der Sturz! Sie war gestürzt … die Treppe hinunter. Hatte sie sich dabei das Genick gebrochen? Nein. Es war ihr Kopf, der dick eingepackt war, nicht der Hals. Schädelbasisbruch? Sowas konnte man doch überleben, oder? Aber warum befand sie sich dann außerhalb ihres Körpers? Das Schockerlebnis war vorbei. Sie hatte keinen Grund mehr hier draußen herumzugeistern. Es sei denn, sie war doch …
Amy begann am ganzen Leib zu zittern, weil die Angst sie innerlich zu erdrücken schien.
„Bin … bin ich tot?“, hauchte sie, den Tränen nahe, obwohl doch niemand da war, der sie hören und ihre Frage beantworten konnte. So dachte sie zumindest.
„Definitiv nicht!“, ertönte eine tiefere Stimme hinter ihr.
Sie fuhr erschrocken herum, stolperte ein weiteres Mal unbeholfen durch den Raum. Das Gesicht, in das sie blickte, war ihr völlig unbekannt. Glatte, feine Konturen. Männlich, aber nicht hart. Ausdrucksstarke, dunkelblaue Augen. Ein amüsierter Zug um die Lippen. Alles eindeutig bläulich gefärbt. So wie sie. Vielleicht sogar noch etwas intensiver. Der helle Schimmer um ihn herum – den besaß sie allerdings nicht.
„Nicht ausflippen!“, sagte der junge Mann mit Nachdruck und kam auf sie zu.
Es half nicht, denn genau das tat sie im nächsten Augenblick. Sie taumelte keuchend zur Seite, schüttelte immer wieder den Kopf und rannte auf einmal los, durch die offen stehende Tür ihres Zimmers, weg von diesem Alptraum. Denn es konnte nur ein Traum sein. Geister existierten nicht. Um ihnen zu entkommen, musste sie nur aufwachen! Jetzt sofort! Musste einen Weg finden, diese furchtbare, surreale Welt zu verlassen. Leider führte ihre panische Flucht sie nur auf einen Krankenhausflur und nicht zurück in die Realität.
„Amy!“
Oh Gott! Der blaue Junge kannte sogar ihren Namen! Er sollte sie in Ruhe lassen! Sie war so verwirrt, konnte nicht denken, wenn er sie zusätzlich bedrängte.
„Amy, bleib stehen! Das bringt doch nichts!“
Und wie es was brachte! Laufen war etwas Natürliches, etwas Reales. Ein Bein vor das andere, der Grund unter den Füßen … Sie stockte. Sie trat ja gar nicht auf! Sie schwebte über dem Boden!! War sie doch tot?!
„Achtung!“, kam die Warnung hinter ihr und sie hob den Kopf, starrte den Arzt an, der direkt vor ihr aufgetaucht und so vertieft in seine Unterlagen war, dass er sie völlig übersah. Sie konnte noch einen Schritt zur Seite machen, doch der genügte nicht. Die Schulter des Mannes rammte die ihre. Nein, eigentlich tat sie das nicht. Sie drang in ihren Körper, trat ein und hinten wieder aus und nahm ihr nicht nur den Atem, sondern hinterließ auch noch ein unangenehmes Vibrieren und Ziehen in ihrer eigenen Schulter.
Amy stand stocksteif da, schnappte nach Luft und konnte sich einfach nicht mehr beruhigen. Jemand … war gerade … durch sie … hindurchgegangen! Und lief auch noch weiter, als ob nichts passiert wäre!
„Wenn du gewartet und erst mit mir gesprochen hättest, wär dir das bestimmt nicht passiert!“ Der blaue Junge war nun neben ihr und sah sie mitleidig an. „Fühlt sich scheiße an, oder? Daran gewöhnt man sich nie. Ist besser, den Lebenden auszuweichen. Wir können da nur den Kürzeren ziehen.“
Amy starrte ihn mit großen Augen an. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er auch ein wenig transparent war. Ein Geist durch und durch. Sie wich erneut vor ihm zurück, schüttelte dabei verzweifelt den Kopf.
„Das soll aufhören“, hauchte sie den Tränen nah. „Ich will, dass das aufhört!“
„Was?“ Er runzelte verwirrt die Stirn, folgte ihr jedoch nicht sofort wieder. „Das Leben?“
„Dieser beschissene Alptraum!“, stieß sie aus und bewegte sich weiter zurück, hinein in den nächsten Flur, der zu ihrem Leidwesen sehr belebt war. Dem nächsten heranrauschenden Arzt wich sie entsetzt aus, sprang einer ebenso rasch laufenden Schwester mit einer leeren Liege aus dem Weg und zog noch gerade rechtzeitig den Hintern ein, um nicht von einem kleinen Jungen ‚durchlaufen‘ zu werden, der fröhlich lachend auf seine Mutter zu rannte.
„Das ist kein Traum“, sagte der Geisterjunge sanft. Jetzt war er doch wieder etwas näher gekommen und sie hob abwehrend eine Hand, sah dabei jedoch nicht ihn, sondern einen Mann in Jeans und einem langen Mantel an, der sie mit finsterem Blick fixierte. Sah der sie etwa?
Ihr Herz schlug sofort schneller, denn irgendwas stimmte mit dem Mann eindeutig nicht. Er war blass und schien ebenfalls zu leuchten – insbesondere seine starren, viel zu hellen Augen. Und jetzt … bleckte er die Zähne. Spitze Monsterzähne!
Amy blieb ihr entsetzter Schrei im Halse stecken, als der Mann plötzlich losstürmte – direkt auf sie zu. Doch er kam nicht weit. Der blaue Junge war auf einmal vor ihr und der Monstermann prallte mit einem beeindruckenden Funkenregen von ihm ab, flog sogar ein Stück zurück in den Flur.
„Such dir ein anderes Opfer für deine miesen Spielchen, Gary!“, knurrte ihr Retter. „Sie steht unter meinem und Simons persönlichem Schutz, ist das klar?“
Ihr Angreifer rappelte sich verärgert auf, bedachte sie beide mit einem verächtlichen Blick und verschwand dann in der nächsten Wand.
Amy schnappte nach Luft. Oh! Das tat gut! Also tat sie es gleich noch ein paar Mal, obwohl sie seltsamerweise nicht wirklich in Atemnot war.
Der Junge vor ihr betrachtete sie besorgt. „Alles okay?“
Sie nickte und schüttelte zur selben Zeit den Kopf. Etwas verbal zurückgeben konnte sie allerdings noch nicht.
„Gary ist so ein Arschloch“, fuhr ihr Beschützer einfach munter fort. „Das macht er bei jedem Neuankömmling – am liebsten bei denen, die nur zu Besuch sind. Du weißt schon: Sie erschrecken und durch die Gegend wirbeln, in der Hoffnung, dass sie das Krankenhaus dann verlassen und nicht mehr zurückkehren …“
Amy blinzelte ungläubig und musterte ihr munter weiter plapperndes Gegenüber noch einmal. Abgesehen von seiner Farbe, sah der Junge eigentlich ganz normal aus. Groß und schlank. Dunkler Kapuzenpulli, Jeans, etwas zu lange, dunkelblonde Haare, die ihm eine verwegene Erscheinung gaben. Ausgesprochen schöne, ausdrucksstarke Augen … Gefährlich wirkte er nicht.
„… Der Idiot findet, dass das Krankenhaus ‚überbevölkert‘ ist. Und manchmal muss ich ihm recht geben, aber das heißt noch lange nicht, dass er sich hier als Herrscher aufspielen und bestimmen kann, wer bleibt und wer geht. Das Recht hätte dann am ehesten wohl Edna, aber die würde das nie tun. Und für unsere lieben Gäste würde das wohl das ‚Aus‘ bedeuten, weil sie nach einer gewissen Zeit für immer von ihren Körpern getrennt werden könnten.“
„Wer … wer bist du?“, stammelte Amy in die kurze Sprechpause hinein.
Das Lächeln, das der Junge ihr schenkte, war sympathisch, konnte sie aber dennoch nicht von ihrer anhaltenden Angst und Anspannung befreien.
„Ich bin Jared Lancaster“, stellte er sich vor und machte einen Schritt zur Seite, dichter an die Wand heran, vor der sie beide standen, weil weitere Menschen auf sie zukamen.
Amy tat es ihm ganz automatisch nach. Hier zwischen dem Süßigkeiten- und Getränkeautomaten in diesem Abschnitt des Flures, waren sie tatsächlich besser geschützt.
„Ich bin leider tot“, fuhr ihre ungewollte Bekanntschaft fort. „Aus diesem Grund kann ich dir mit Sicherheit sagen, dass du es nicht bist, du aber auch nicht nur träumst.“
„Hä?“, stieß Amy völlig überfordert aus. „Du … ich … was …?“
Er hob die Hände. „Ganz ruhig bleiben. Ich versuche dir zu erklären, was passiert ist und danach wird es dir gleich sehr viel besser gehen. Versprochen.“
„Aber …“, begann sie, doch er schüttelte sofort den Kopf.
„Erst ich – dann du“, kommandierte er.
Amy schloss den Mund und atmete tief durch die Nase ein. Sie würde ihn erneut reden lassen, aber nur weil sie augenblicklich immer noch keinen klaren Gedanken fassen konnte.
„Du hattest einen … nennen wir es der Einfachheit halber erst einmal ‚Unfall‘“, begann Jared zu erklären. „Du bist zuhause bei dir die Treppe hinunter gefallen und hast dir den Kopf angeschlagen. Gott sei Dank nicht allzu schlimm. Schädel-Hirn-Trauma zweiten Grades, wie ich die Ärzte verstanden habe. Mit einer kleinen Komplikation.“
„Was heißt das?“, fragte sie mit Bangen.
„Dass du für eine Weile im Koma liegst“, war die erschütternde Antwort.
Amys Atemschwierigkeiten waren zurück – obwohl diese ja bei genauerem Nachdenken gar nicht real sein konnten, schließlich befand sie sich gerade nicht in ihrem Körper. „Aber warum …“
„… du jetzt hier neben mir stehst?“, nahm er ihr die Frage ab. „Das passiert manchmal bei Komapatienten. Warum weiß ich auch nicht. Wir nennen euch ‚Besucher‘ oder ‚Gäste‘.“
„Meine Seele …“
„… hat sich von deinem Körper gelöst und ist auf Wanderschaft gegangen, ja. Du bist halt ein sehr aktiver Mensch und hast dich entschlossen, nicht weiter untätig herumzuliegen und stattdessen etwas zu tun.“
„Zu tun?“, wiederholte sie verwirrt. „Wo… wogegen?“
„Besser wofür“, korrigierte er sie frech und trug damit nicht gerade dazu bei, ihre Verwirrung aufzulösen. „Du willst die Person finden, die daran schuld ist, dass du jetzt im Koma liegst.“
Sie hob die Brauen. „Will ich das?“
Er nickte nachdrücklich.
Sie blinzelte ein paar Mal, versuchte ihre Eindrücke zu ordnen und dabei zu entscheiden, ob sie Jared glauben oder weiter versuchen sollte, aufzuwachen. Aber konnte das alles wirklich nur ein Traum sein? Sie schloss kurz die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und entschied sich dann dafür, sich vorerst auf ihre neue Realität einzulassen. Sie war ein … Gastgeist, der dringend verstehen musste, was passiert war. Eigentlich konnte sie froh sein, dass sie mit Jared jemanden an der Seite hatte, der bereit war, ihr alles zu erklären. Seltsamerweise war ihre anfängliche Angst vor ihm verschwunden und seine Gegenwart beruhigte sie mehr und mehr.
„Das heißt … es gibt jemanden, der an meinem Unfall schuld ist?“, fragte sie.
„Ja. Kannst du dich wirklich nicht mehr daran erinnern, wie es zu deinem Sturz gekommen ist?“
Amy senkte den Blick und dachte nach. Was war das Letzte, an das sie sich erinnerte? Ach ja. Sie war einen Tag früher vom Internat nach Hause gefahren, als sonst. Miss Piggleton, die Direktorin der Uppingham-School, hatte ihr das ausnahmsweise erlaubt, weil Amy ihren Vater zu ihrem Geburtstag hatte überraschen wollen. Er war nicht zuhause gewesen. Donnerstags hatte er immer seinen Bowlingabend mit den Jungs vom Revier und kam erst spät nach Hause. Amy hatte das Licht im Haus nicht angemacht, weil ihre Nachbarin, Mrs. Kippert, die dann immer auf Amys Hund Jasper aufpasste, zu dieser Zeit noch wach und zudem furchtbar neugierig war. Sie hatte vermeiden wollen, dass diese schwatzhafte Frau ihre schöne Überraschung kaputt machte und es war zum Zeitpunkt ihrer Ankunft noch nicht so dunkel gewesen, dass man sich ohne Lampenlicht im Inneren des Hauses nicht zurrechtfinden konnte.
Amy war ganz leise durch die Haustür geschlüpft und ebenso leise die Treppe hinauf gegangen. Geräusche … Sie hatte Geräusche aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters gehört. Das Rascheln von Papier. Etwas war umgefallen und sie hatte nach ihrem Vater gerufen. Vielleicht war er doch zuhause geblieben. Sie war weiter die Treppe hinauf gegangen, ohne Bedenken, ohne Angst. Und dann …
Eine dunkle Gestalt am Treppenabsatz! Amy schnappte nach Luft. Das Gesicht – sie hatte es noch nie zuvor gesehen. Ein fremder Mann, der ebenso entsetzt wie sie gewesen war und dann … er hatte sie gestoßen. Gegen die Brust. Und sie war gefallen.
„Da war ein Mann!“, entfuhr es ihr nun entsetzt und sie sah Jared wieder an. „Ein fremder Mann! Ein … ein Einbrecher?“
Jared stimmte ihr mit einem Nicken zu.
„Er hat mich gestoßen!“, keuchte sie. „Er ist schuld an meinem Sturz!“
„Ganz genau!“, stimmte Jared ihr wieder zu. „Und deswegen bist du jetzt hier bei mir. Du bist aus deinem Körper gestiegen, weil du nicht zur Ruhe kommen kannst. Du willst wissen, wer er ist und warum er das getan hat.“
Sie reagierte nicht auf ihn. Ihre Gedanken hatten sich in eine andere Richtung bewegt als die seinen.
„Wer hat mich gefunden?“
Jareds Enthusiasmus nahm sichtbar ab, dennoch beantwortete er ihr die Frage. „Dein Vater.“
„Oh Gott!“, entfuhr es ihr und sie sah sich um, erinnerte sich aber sofort daran, dass er bei ihrem Erwachen nicht in ihrem Zimmer gewesen war. „Wo ist er?“
„Er hat zwei Tage und Nächte an deinem Bett gesessen“, entschuldigte Jared ihn sofort. „Seine Partnerin kam vor ungefähr einer Stunde und hat ihn dazu gebracht, nach Hause zu gehen und wenigstens für ein paar Stunden zu schlafen.“
„Nancy?“
„Ja, ich glaube, das war ihr Name.“
Amy mochte die junge Frau, die ihrem Vater seit ungefähr zwei Jahren dabei half, die kniffligsten Mordfälle zu lösen. Laut Aussage ihres Vaters war sie nicht nur eine intelligente und fähige Mitarbeiterin im Scotland Yard, sondern auch über die Jahre zu einer guten Freundin geworden, auf die immer Verlass war. Es war schön, zu hören, dass sie ihrem Vater auch in dieser Situation zur Seite stand.
„Und meine Mutter?“, wollte sie als nächstes wissen. „Weiß meine Mutter schon über das alles Bescheid?“
Zu ihrem Leidwesen schüttelte Jared betrübt den Kopf. „Der Handyempfang in Guyana scheint nicht besonders gut zu sein. Dein Vater versucht sie, seit du hier bist, zu erreichen. Leider erfolglos.“
Amy stieß einen missgestimmten Laut aus. Dieses Problem kannte sie zu Genüge, seit sich ihre Mutter wieder mit Leidenschaft ihrem Beruf als Anthropologin widmete und indigene Völker in Südamerika erforschte. Sie konnte schon froh sein, wenn sie diese Fanatikerin wenigstens drei bis viermal im Jahr zu Gesicht bekam.
„Ich liege also schon seit zwei Tagen im Koma?“, versuchte sich Amy zurück auf ihr eigentliches und sehr viel wichtigeres Thema zu besinnen.
„Ja“, bestätigte Jared ihr. „Es hat mich echt überrascht, dass du doch noch aus deinem Körper gestiegen bist. Ich dachte eigentlich, dass du dort bleibst, bis du wieder gesund wirst – wie es die meisten Komapatienten machen. Aber das hast du nicht getan und aus diesem Grund war mir sofort klar, dass du …“
„Werde ich denn wieder gesund?“, unterbrach Amy seinen erneut einsetzenden Redeschwall.
Jared hob eine Augenbraue. „Sehe ich aus wie ein Arzt?“
„Nein, aber du hast doch anscheinend gehört, was die Ärzte gesagt haben“, drängelte sie.
Er seufzte leise und ihm war anzumerken, dass er eigentlich über etwas ganz anderes sprechen wollte. „Ist ja schon gut. Es klang danach, dass du dich wieder ganz erholst, ohne schlimme Schäden davonzutragen. Zufrieden?“
„Ja, natürlich!“, stieß sie verärgert aus. „Das ist alles, worauf es ankommt! Ich will ganz bestimmt nicht für immer in diesem Zustand bleiben!“
„Ach, und ich wollte das, ja?“, platzte es nun auch aus Jared etwas ungehalten heraus.
Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Er hatte recht. Das war wirklich unsensibel gewesen. Amy, der Gefühlstrampel. Glücklicherweise hatte sie diese unangenehme Seite von sich die meiste Zeit im Griff.
„Du bist also ein …“ Sie hatte große Schwierigkeiten das auszusprechen. „… Geist?“
„Astralkörper, paranormale Erscheinung, übernatürliches Wesen – nenn es, wie du willst, denn es läuft alles auf dasselbe hinaus“, verkündete Jared mit einer Mischung aus Frust und Amüsiertheit. „Ich besitze im Gegensatz zu dir keinen atmenden, lebenden Körper mehr, in den ich, wenn die Zeit gekommen ist, zurückkehren könnte, und habe dadurch keinen Zugang mehr zu der materiellen Welt, in der du noch verhaftet bist.“
„Das tut mir leid“, sagte Amy und meinte es so. „Wirklich.“
Jared zuckte die Schultern. „Hab mich langsam dran gewöhnt festzuhängen.“
Amy runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“
„Die meisten Menschen, die sterben, reisen gleich weiter – wohin auch immer“, antwortete Jared. „Es gibt nur wenige, die bleiben. Und jeder hat einen anderen Grund dafür, den er erst einmal herausfinden muss. So wie du auch.“
„Ich bin nicht tot“, erinnerte Amy ihn und klammerte sich ganz fest an diesen Mut machenden Gedanken. „Klar hänge ich dann erstmal fest! Ich werde ja wieder aufwachen!“
„Ja, aber du bist vorher aus deinem Körper getreten“, wandte Jared schnell ein. „Das hat einen Grund.“
„Ich will wissen, wer mich geschubst hat“, wiederholte Amy, was sie schon zuvor von ihrem neuen ‚Freund‘ gehört hatte. „Das sagtest du ja schon. Aber ich weiß es ja jetzt: Es war ein Einbrecher. Fall abgeschlossen.“
Jared bedachte sie mit einem sehr kritischen Blick. „Das reicht dir doch nicht!“
Nun war sie es, die die Schultern zuckte. „Vielleicht schon …“
„Dann wärst du aber nicht mehr hier, sondern wieder in deinem Körper!“
„Vielleicht dauert das ja ein bisschen länger, als du denkst!“
„Nö!“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Hab ich noch nie erlebt. Wenn man erledigt hat, was man erledigen musste, kehrt man sofort zurück. Und du bist eindeutig nicht der Typ, der sich mit ‚Es war ein Einbrecher‘ zufrieden gibt. So bist du nicht.“
„Du kennst mich doch gar nicht!“, erwiderte sie empört. Was bildete sich der Kerl denn ein? Er hatte sie gerade mal vor ein paar Minuten getroffen und meinte schon, sie besser einschätzen zu können als sie sich selbst. Sie hatte keine Lust in dieser beschissenen Geisterwelt aktiver zu werden, als sie musste. Mit Sicherheit nicht!
„Dein Vater ist Kriminalinspektor und deine Mutter sucht nach unentdeckten Volksstämmen in den Wäldern Südamerikas“, entfuhr es Jared mit hörbarer Bewunderung in der Stimme. „Mut und natürliche Neugierde sind dir in die Wiege gelegt worden! Du bist die geborene Abenteurerin! Lügen ist zwecklos!“
Amy öffnete den Mund ein weiteres Mal, ohne etwas hervorzubringen. Sie war sprachlos.
Jared machte noch einen Schritt an sie heran und sah ihr tief in die Augen. „Der Einbrecher, der im Haus deines Vaters gewesen ist, hat etwas gesucht und du hast ihn dabei gestört. Nur deswegen bist du verunglückt“, fuhr er fort. „Willst du nicht wissen, warum genau er dort war und was er gesucht hat?“
Amy stieß einen ungläubigen Laut aus und ein weiteres Mal musterte sie den Jungen vor sich genauestens.
„Woher zur Hölle weißt du das alles?!“, brachte sie nun doch endlich heraus. „Wer bist du und was zum Teufel willst du von mir?!“
Fluchen tat gut. Auch als Halbgeist.

…….

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