Leseprobe ‚Magisch Verschneit‘
Monströs
Ein neuer Rekord. Guiness-Buch-verdächtig. In der nächsten Ausgabe garantiert dabei und niemals wieder herausgenommen, da ungebrochen. Der Streit mit ihrer bis dato ältesten lebenden Verwandten („Aber ich sage Dir doch, Ur-Ur-Großmutter Yoshiko-Cecilia ist immer noch am Leben und mindestens 200 Jahre alt!“, pflegte ihre Oma bei solcherlei Äußerungen immer anzumerken) hatte eine Anlaufzeit von genau 1,372 Minuten. Natürlich stoppte das niemand, aber Patricia war sicher, dass sie recht hatte. In der Sekunde, in der sie zurück ins Haus gekommen und ihre Großmutter in der warmen und nach verschiedenen Gewürzen und Kräutern duftenden Küche vorgefunden hatte, war noch alles in Ordnung gewesen. Perfekte vorweihnachtliche Stimmung.
Es hatte nur eines Anrufs ihrer Mutter bedurft und der Streit war da gewesen. Von happy-peppy-feiertäglicher-Glückseligkeit zu Boom! Neutralität und Verständnis für die Enkelin waren von den Tränen ihrer Tochter hinfort gewischt worden – schließlich weinte diese sonst nie. Seine eigene Mutter zum Heulen zu bringen war anscheinend in Oma Tamas Welt ein Verbrechen, das seinesgleichen erst suchen musste. Vorwürfe und eine Standpauke, die es in sich gehabt hatte, waren auf Trish niedergeprasselt, hatten schließlich das Fass zum Überlaufen gebracht und sie zu einem Mittel der Konfliktbewältigung greifen lassen, das sie nur sehr selten anwandte: Flucht.
Erst als sie aufgewühlt zur Haustür hinausgestürmt und kopflos in den angrenzenden Wald gelaufen war, hatte sich der Knoten in ihrer Brust gelöst und die Wut langsam wieder gelegt. Irgendwann – wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht genau, wie viel Zeit vergangen war und welche Strecke sie zurückgelegt hatte – hatte sie angehalten, sich außer Atem an einen kahlen Baumstamm gelehnt und die frische Winterluft eingeatmet.
Seltsam, wie kalt es hier war. Auf ihrem Weg zurück zum Haus ihrer Großmutter war es um die null Grad und fast absolut windstill gewesen. Jetzt allerdings hinterließ ihr stoßweise gehender Atem weißen Qualm in der silberblauen Winterluft und klirrende Kälte drang durch ihre zu dünne Kleidung bis in ihre Knochen. Nicht auf die schöne Art, mit der eiskaltes Wasser den Körper im heißen Sommer abkühlte; er stach durch den zarten Stoff ihres langärmeligen Hemdes, als wäre es gar nicht vorhanden, und ließ sie erzittern. Wie unglaublich schlau, ohne Jacke, Mütze oder Handschuhe loszulaufen – lediglich der lange Schal baumelte um ihren Hals und wurde sofort mehrfach darum und um den Kopf gewickelt, um wenigstens ein wenig Wärme im Körper zu halten.
Es war vermutlich das Beste, wieder zurückzulaufen. Schmollen konnte sie auch im Warmen. Sie stieß sich vom Baumstamm ab und lief in die Richtung los, aus der sie gekommen war. Zumindest nahm sie das an, sah sich aber nach ein paar Metern irritiert um. Sie konnte sich gar nicht an diese kleine Felsgruppe zu ihrer Linken erinnern … eigentlich konnte sie sich überhaupt nicht entsinnen, jemals eine solche Formation hier gesehen zu haben, auch wenn es recht eigenartig erschien, weil sie diesen Wald von klein auf kannte. Sollte sie tatsächlich einen ganz neuen Weg …
Ein dumpfes Grollen im ansonsten recht stillen Wald ließ sie innehalten und sich erschrocken in alle Richtungen umsehen. Ihr Atem wurde wieder schneller und sie drückte sich an die Felswand, um im nächsten Moment über sich selbst den Kopf zu schütteln. Jetzt fing sie schon an, Gespenster zu sehen, beziehungsweise zu hören, dabei war das vermutlich nur ihr Magen gewesen, weil sie seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte.
Mit einem verächtlichen Schnauben machte sie erneut ein paar Schritte vorwärts, bis sie ein weiteres, diesmal schon viel näheres Grollen hörte, das garantiert nicht von ihrem Bauch kam und sie an den Felsen zurückweichen ließ, als würde der auch nur in irgendeiner Form Schutz bieten. Vermutlich war irgendwo in der Nähe ein hungriger, herumstreunender Hund, denn diese trieben sich in dieser ländlichen Gegend des Öfteren herum. Sie mochte Hunde eigentlich, allerdings nicht, wenn sie hungrig knurrten und sie allein und schutzlos war und ihr plötzlich nur noch Schauergeschichten über diese Tiere einfielen.
Patricia sah sich nach einer möglichen Waffe um, fand aber nichts in unmittelbarer Reichweite. Sie griff in ihre Hosentasche und holte ihr Handy heraus. Natürlich hatte sie hier draußen mal wieder keinen Empfang, aber vielleicht konnte sie das Tier mit der integrierten Taschenlampe oder einem schrillen Klingelton verschrecken. Ihr war egal, wie unwahrscheinlich die Erfolgschancen waren – sie war verzweifelt!
Oft hatte sie sich gefragt, wieso Menschen in Filmen angesichts drohender Gefahr nicht einfach wegliefen – jetzt schienen sich ihre eigenen Knie in Gummi und ihre Beine in Pudding verwandelt zu haben, sodass sie kaum noch aufrecht stehen konnte. Dann wiederum war es auch nicht gerade schlau, vor einem Raubtier weglaufen zu wollen und seinen Jagdtrieb damit erst recht anzuheizen. Unzählige Minuten verbrachte sie so, den kalten Stein im Rücken, lauschend, Ausschau haltend und sich für ihre Schwäche verfluchend.
Nichts geschah. Kein Grollen mehr, nichts. Doch es war eben dieses ‚Nichts‘, das weitere Knoten in ihren Gedärmen entstehen ließ. Nicht einmal mehr der Wind raschelte durch die kahlen Zweige der Bäume. Es war, als würde der Wald zusammen mit ihr den Atem anhalten.
Schließlich schloss sie kurz die Augen und versuchte sich trotz aufgestellter Nackenhaare und eines furchtbar unguten Gefühls in der Magengegend davon zu überzeugen, dass sie sich alles nur einbildete. Doch genau in diesem Augenblick prallte etwas direkt über ihr dumpf auf dem Stein auf, gefolgt von einem grässlichen Klacken und Kratzen, so als würden Säbel über den Felsen gezogen werden.
Patricia schloss kurz die Augen – eine weitere Reaktion, die sie im Angesicht der Gefahr nie verstanden hatte, denn das Thema ‚alles bloß Einbildung‘ hatte sie soeben abgehakt – dann öffnete sie diese mit zusammengebissenen Zähnen und hob den Kopf, um über sich zu blicken.
Nichts war zu sehen. Nichts, bis auf ein paar strohige Grasbüschel, die dort oben gewachsen waren und … länger wurden?! Mit sich entsetzt weitenden Augen begriff sie, dass das kein Gestrüpp war, sondern verfilztes Fell, das zu einem riesigen Kopf gehörte, mit spitzen Hörnern an den Seiten und unheilvollen gelb leuchtenden Augen, die sie hasserfüllt anstarrten. Die Erkenntnis, dass es sich keinesfalls um einen Hund handelte, brachte auch keine Erleichterung, aber wieder Leben in Patricia erstarrte Glieder. Sie hielt das Handy und die grelle Taschenlampe an der Rückseite schräg nach oben, sodass das Monstrum über ihr geblendet wurde und mit einem wütenden Grollen die Augen zukniff.
Ohne weiter nachzudenken, rannte Patricia los. Querfeldein, mitten durch den Wald. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, dornige Äste rissen an ihrer Kleidung, doch sie spürte es kaum, während ihre Füße über den schneebedeckten Boden flogen, und nahm es maximal als Ansporn, noch schneller zu laufen, Haken zu schlagen, alles zu tun, um sich in Sicherheit zu bringen. Hoffte, betete, dass das Monster sich abschütteln ließ und keine Gruppe von Freunden hatte, die am anderen Ende des Waldes auf sie warteten.
Leicht machte es ihr die Bestie nicht. Sie spürte den Waldboden erbeben, vermutlich immer dann, wenn deren massiver Körper nach einem Sprung wieder aufsetzte, und jedes Mal, wenn das Beben heftiger zu werden schien, raste Patricia in eine andere Richtung. Vielleicht war das Monster ja faul und gar nicht so hungrig und gab bald auf …? Was in jedem Fall bald aufgab, war Patricias Körper. Sport war so gar nicht ihr Ding und selbst das Adrenalin, das durch ihren Körper pumpte, ließ sie ihre brennenden Lungen und ihre schwindenden Kräfte deutlich spüren.
Lange würde sie dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Sie musste dringend einen Ausweg finden oder Hilfe, irgendjemand, bitte! Doch sie brauchte ihre Luft, um weiterzurennen, konnte jetzt auf keinen Fall anhalten und rufen.
Folgte das Monster ihr überhaupt noch? Schon seit ein paar Sekunden hatte das Donnern seiner Pranken nachgelassen und irrsinnige Hoffnung machte sich in ihr breit. Sollte sie es abgehängt haben? Sollte das Glück ihr hold sein und Mitleid mit einer armen, kleinen Schulabgängerin haben, die Putzen bei der Oma plötzlich ganz toll und alles andere als langweilig fand?
Etwas zischte über ihr durch die Luft und landete mit einem grässlichen Krachen in einer Reihe morscher, umgestürzter Bäume. Patricia blieb wie angewurzelt stehen und starrte das an, was sich da vor ihr erhob, mit einem wütenden Knurren das verfilzte, weißgraue Fell schüttelte und sie dann aus seinen gelben Augen anstarrte, das mit spitzen Zähnen versehene Maul zu einem bösartigen Grinsen verzogen.
‚Lauf!! Renn weg!!‘, schrie ihr ihre innere Stimme zu, doch sie konnte sich nicht bewegen, war starr vor Schreck und darüber hinaus völlig mit ihren Kräften am Ende.
Bis jetzt hatte sie sich nicht getraut, sich umzudrehen und so stand ihr Verfolger ihr zum ersten Mal in seiner vollen Größe und Abscheulichkeit gegenüber: Er war mindestens zwei Meter groß, hatte schmuddelig-weiß-graues Fell, einen runden Kopf mit diesen schrecklich glühenden Augen, zu einem Bogen gedrehte Hörner mit spitzen, nach vorne zeigenden Enden und scharfe Reißzähne an den Seiten seines Mauls. Getoppt wurde sein Erscheinungsbild von scharfen Klauen an den Vorderpfoten und Hufen an den Hinterbeinen, die es jetzt wie ein wütender, zweibeiniger Stier über den Boden trieb, als nähme es Anlauf.
Na, super! Das war es dann wohl. Von ‚junger Frau, die mittlerweile nichts anderes wollte als ein besinnliches, dramafreies und gerne auch langweiliges und mit vielen nervigen Vorbereitungen verbundenes Weihnachtsfest im Kreise ihrer meistens-Lieben zu verbringen‘ zu ‚betrauerte, aber sicher bald vergessene wie-war-nochmal-ihr-Name?‘. Das war nicht fair. Das war einfach nicht fair! Nicht so! Nicht hier!
Patricia schrie. Innerlich. Heroisch. Zurückhaltend. Und äußerlich. So laut und schrill, dass das Monster sich kurzzeitig die … Ohren oder was auch immer diese Zotteln am Rande seines verfilzten Kopffells waren … zuhielt?? Das musste sie sich wohl eingebildet haben, denn im nächsten Moment schossen die zwei mit langen, messerscharfen Klauen behafteten Pranken so heftig durch die Luft, dass sie ein zischendes Geräusch verursachten, ähnlich dem eines schnell geführten Dolches, und dann setzte das Untier zu einem weiteren Sprung an, würde sie unter seinem schweren Körper zermalmen und das, was von ihr übrig war, buchstäblich in der Luft zerreißen.
Wieder schnitten die rasiermesserscharfen Klauen vor ihr durch die Luft. Patricia schloss die Augen und fügte sich in das Unausweichliche.
Zorniges Grollen und Keuchen ertönte und Patricia wagte es, ein Auge einen Spalt zu öffnen, dann folgte das zweite, weil das Gesicht des Monsters nicht unmittelbar vor ihr war, ihr seinen sicherlich widerlich stinkenden Atem ins Gesicht hauchend. Im Gegenteil – es hatte sich abgewandt und zog und zerrte am Gestrüpp zwischen den halbmorschen Baumleichen hinter sich, in dem sich offenbar sein zotteliges Fell verfangen hatte.
Hoffnung durchflutete Patricia und ohne auch nur eine weitere Sekunde des Zögerns warf sie sich herum, mobilisierte noch einmal alle möglichen Kraftreserven und rannte los, weiter in den Wald hinein, in der unsinnigen Hoffnung, ihrem schrecklichen Schicksal doch noch zu entkommen. Das Monster sandte ihr ein wütendes Grollen hinterher und zu ihrem Leidwesen dauerte es nicht lange, bis es mit seinen donnernden Hufen wieder die Verfolgung aufnahm.
Ihr Herz schlug so heftig in ihrer Brust, dass sie meinte, es müsse jeden Augenblick zerspringen und sicherlich war es auch nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Lunge kollabierte. Nicht einmal das Adrenalin vermochte es mehr, die Schmerzen in ihren überstrapazierten Gliedmaßen zu überdecken, und mit jeder Sekunde, die sie mittlerweile nur noch weiterstolperte, schwand ihre neu aufgekeimte Hoffnung dahin und sie war kurz davor, sich einfach fallen zu lassen, dem Monster zu ergeben und auf ein schnelles Ende zu hoffen.
Ihr Fuß blieb an einer hochstehenden Wurzel hängen und ließ sie stolpern und schließlich der Länge nach hinschlagen. Mit fast der gesamten Vorderseite ihres Körpers auf dem Waldboden, fühlte sie die Schwingungen im Boden nun noch viel deutlicher und das Knurren kam mit jeder Sekunde näher. Sie würde es nicht schaffen. Dennoch erhob sie sich und war im nächsten Augenblick mehr als dankbar dafür, weil sie in der Ferne etwas wahrnahm, das nach einer Art Bogen aussah.
Natürlich! Der Torbogen, der vorne am Weg zum alten Rosewood Anwesen stand. Es war zerfallen, eine Ruine mit kaum mehr einem bewohnbaren Raum – soweit sie informiert war – dennoch versprach es ihr in ihrer Verzweiflung einen Hauch von Sicherheit und ihr war egal, wie klein diese Möglichkeit war.
Mit einem Stöhnen und den zusätzlichen Schmerz in ihrem Knöchel ignorierend, rappelte sie sich auf und stolperte nach etwa hundert Metern durch die einen Spalt weit geöffnete eiserne Tür hindurch, den Weg zur Ruine entlang. Vielleicht hatte sie hier Handyempfang und konnte sich so lange verstecken, bis Hilfe kam. Im Laufen griff sie in ihre Hosentasche, doch so sehr sie auch suchte, sie konnte das Mobiltelefon nicht finden. Ein erneuter Schwall Verzweiflung überkam sie, dennoch bewegte sie sich weiter vorwärts, auf das große steinerne Gebäude vor sich zu.
In solch gutem Zustand hatte sie es gar nicht in Erinnerung – obgleich sie es bisher immer nur vom Weiten gesehen hatte. Hatte jemand das alte Gemäuer etwa gekauft und erste Restaurationen vorgenommen? Wer auch immer es war, sie würde dieser Person ewig dankbar sein, denn zumindest die Eingangstür, zu der eine breite Treppe hinaufführte, war intakt – auch wenn niemand auf ihr verzweifeltes Klopfen hin reagierte. Klar, selbst ein Restaurator würde abends nach getaner Arbeit in sein warmes Zuhause zurückkehren und die Nacht nicht in einem zugigen Gebäude verbringen.
Hoffnungsvoll drückte sie die riesige Messingklinke herunter und gab ein erleichtertes Keuchen von sich, als diese nach- und den Blick auf eine durch Öllampen an den Seiten beleuchtete, fast nobel aussehende Eingangshalle freigab. Hastig schloss sie die Tür wieder hinter sich, presste sich mit dem Rücken dagegen und lauschte. Vermutlich war das eine sehr dumme Idee und gleich würden sich scharfe Klauen durch das dicke Holz hindurch in ihren Körper schlagen, also rückte sie ein Stück davon ab, drehte sich um und stemmte beide Hände dagegen. Klar, so würde sie einem schweren Eindringling auf jeden Fall Zutritt verwehren können!
Hastig sah sie sich um und fand in einer seitlichen Halterung einen schweren Riegel, den sie mit etwas Mühe löste und dann in die Vorrichtung auf der anderen Seite neben der Tür bugsierte. Hoffentlich hielt das Ding und hoffentlich hatte der Restaurator oder jemand anderes aus seinem Team (denn allein konnte man wohl kaum solche Wunder vollbringen) hier drinnen ein Telefon oder einen Laptop vergessen – irgendetwas, das ihr die Verbindung zur Außenwelt ermöglichte, bevor ihr Verfolger einen Weg hier rein fand. Die Bestie, deren gänsehauterregendes Grollen in der Ferne weiterhin die abendliche Stille zerriss und Patricia davon abhielt, sich kurz auf einem antiken Stuhl ein Stück von ihr entfernt auszuruhen. Sie musste weiter, weiter. Der Alptraum war noch lange nicht zu Ende.
„Hallo?“, rief sie halblaut, aus Angst, das Monstrum könne sie von draußen hören. „Hallo?“
Sie humpelte durch die große Halle und dann nach kurzem Zögern durch eine halboffene Flügeltür zu ihrer Linken, nachdem niemand auf ihr Anklopfen reagiert hatte.
„Hören Sie, mein Name ist Patricia Robbins-Saito“, sprach sie weiter in die anhaltende Stille hinein, „und es tut mir leid, dass ich so einfach hier hereinplatze, aber ich … ich hatte draußen … ein wenig Ärger und … ähm, ihre Tür ist doch recht robust oder? So Yeti-erprobt vorzugsweise?“
Keine Antwort. Vermutlich hatten die Restauratoren oder Techniker lediglich vergessen, die Lampen zu löschen – im Flur und hier. Der Kamin war aus und der Raum ungemütlich kalt, wenn auch weniger schlimm als draußen und erst jetzt merkte sie wieder, wie entsetzlich sie eigentlich fror. Ihre unfreiwillige sportliche Betätigung hatte sie davor bewahrt, zu einem Eisklumpen zu erstarren, doch der Schweiß, der ihr nun aus allen Poren rann, legte sich wie eine kühlende Schicht auf ihre Haut und ließ sie in ihrem Hemd zittern.
Sie war kurz versucht, ihre Hände an einer der Wandlampen zu wärmen, überlegte es sich aber schnell anders. Bei ihrem Glück würde sie sich daran verbrennen, die vermutlich antiken Leuchtmittel herunterreißen, das ganze Anwesen in Brand setzen und den Rest ihres Lebens dafür bezahlen; das Geld ihrer Eltern für Gerichtskosten verbraten, alle an den Rand des Ruins treiben und sich selbst schließlich aus Zahlungsunfähigkeit ins Gefängnis begeben müssen. Jeez, seit wann war sie denn eine solche Schwarzseherin?
„Hallo?!“, rief sie erneut.
Wieder keine Antwort. Sie verließ das Kaminzimmer, durchquerte die Halle und suchte in anderen, düsteren, nicht abgeschlossenen Zimmern nach einem Lebenszeichen, doch weder in der riesigen Küche noch in dem ebenfalls äußerst geräumigen Speisezimmer konnte sie jemanden entdecken, es sei denn er oder sie versteckte(n) sich in den zahlreichen dunklen Ecken. Es musste Nachmittag sein, denn draußen fing es an zu dämmern und durch die großen Fenster des Anwesens fiel nur wenig Licht herein. Gott sei Dank konnte sie auch das Monster nicht erspähen. Hoffentlich hatte es aufgegeben und war wieder in seine Höhle oder auf seinen Planeten zurückgekehrt – Hauptsache ganz weit weg.
Trish entschloss sich dazu, nicht auch noch die Treppe hinauf in das obere Stockwerk zu gehen. Sicherlich konnte man ihre Anwesenheit auch jetzt bereits als Hausfriedensbruch bezeichnen, aber man musste es ja nicht übertreiben. Nachher hatte sich jemand oben zu einer kleinen Ruhepause zurückgezogen und würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie urplötzlich in dessen Schlafzimmer stand. Auch wenn sie nicht wirklich daran glaubte, ging sie wieder zurück in das Kaminzimmer und setzte sich auf das alte, an den Rändern zerschlissene Sofa und massierte ihren Knöchel. Er schien nicht doll geschwollen zu sein, also hatte sie wohl doch ein wenig Glück im Unglück.
Was sollte sie denn jetzt tun? Allein traute sie sich nicht wieder hinaus, allerdings konnte sie ihrer Oma von hier aus auch nicht einmal sagen, wo sie sich aufhielt und diese würde sich sicherlich wahnsinnige Sorgen machen – Streit hin oder her. Der würde vermutlich nachher ohnehin kein Thema mehr sein. Im Gegensatz zu Trish, deren Temperament manchmal mit ihr durchging, war ihre Nana besonnener, aber sie beide nicht der Typ Mensch, der jemandem lange böse sein konnte.
Wenn sie ganz viel Glück hatte, – und ihrer Ansicht nach schuldete ihr das Schicksal so einiges nach diesem Erlebnis eben – würde der Besitzer/Restaurator/wer-auch-immer-aber-hoffentlich-netter-und-hilfsbereiter Mensch doch noch einmal an diesem Tag zurückkommen. Bestimmt hatte diese Person dann ein Auto und würde es ihr nicht abschlagen, sie kurz heimzufahren oder ihr zumindest mal sein Handy zu leihen.
Trish stand kurz auf und zog die alten, langen Vorhänge vor den beiden hohen Fenstern zu, falls das Monster doch draußen herumschlich und herauszufinden versuchte, wo sie sich befand. Den Gedanken, dass es sie vielleicht auch erschnüffeln konnte, schob sie ganz schnell wieder von sich. Anschließend kehrte sie zur Couch zurück und griff nach dem Buch, das auf einem kleinen Beistelltischchen lag.
Alessandro Volta – eine Biographie stand auf dem Einband. Toll – das einzig sichtbare Buch und dann war es quasi für ihren Bruder. Physik war so gar nicht ihr Ding, aber selbst der langweiligste Text war besser, als einfach nur herumzusitzen und zu warten, also schlug sie die erste Seite auf und begann zu lesen.