Leseprobe ‚Falaysia – Fremde Welt – Band 1‘
Xadred
Der Weg nach Xadred war furchtbar lang und erschöpfend, zumal die beiden alten Leute keinen Packesel oder ein Pferd besaßen und Jenna und Gideon so noch Beutel mit Wolle mit sich trugen, die sie in der Stadt gegen Lebensmittel eintauschen wollten. Zudem hatte Jenna das Gefühl, nicht richtig Luft zu bekommen, da Tala ihr mit einem groben Tuch den Busen abgebunden hatte, damit sie auch wirklich wie ein junger Mann aussah. Um zusätzlich von ihren doch recht weiblich gerundeten Hüften abzulenken, hatte die Alte ihr die Taille mit einem anderen Tuch und ein wenig ungesponnener Wolle etwas verbreitert, was nun auch noch bestialisch zu kratzen begann. Jenna hatte sich geweigert, ihr langes Haar abzuschneiden, aber da langes Haar, Gideons Aussage zufolge, zurzeit in Falaysia auch für Männer nicht ungewöhnlich war, hatten sie es schließlich nur streng zusammengebunden. Ein bisschen Schmutz ins Gesicht, einen großen, für Schäfer typischen Hut auf den Kopf gesetzt und schon gab Jenna das perfekte Bild eines Bauernjungen oder auch jungen Schäfers ab.
Es war natürlich nicht gerade sehr schmeichelhaft, dass man so schnell einen Mann aus ihr machen konnte, aber um wieder nach Hause zu kommen, würde sie fast alles tun. Peinlich würde es nur werden, wenn sie auf ihrem Weg den ersten normalen Menschen begegneten und das mussten sie ja irgendwann einmal, wenn sie tatsächlich auf eine Stadt zugingen. Jenna fragte sich, wie lange Gideon noch in seiner Fantasiewelt verharren würde. Spätestens an der nächsten großen Straße musste er doch aufgeben, ihr vorzumachen, sie befände sich in einer mittelalterlichen Welt. Oder er war schon so verrückt, dass ihm selbst die konsternierten Blicke seiner Mitmenschen entgingen und er kein Empfinden dafür hatte, dass sein Verhalten ihn durchaus bald in eine psychiatrische Anstalt befördern könnte. Sie selbst würde in diesem Fall sofort erklären, dass sie sich nur aus reiner Verzweiflung auf Gideons Fantasiewelt eingelassen und mitgespielt hatte.
Jenna seufzte – nicht nur wegen dieser belastenden Gedanken, sondern auch, weil der lange Fußmarsch sie körperlich erschöpfte. Ihr Rücken schmerzte, die Muskulatur ihrer Waden hatte sich unangenehm verkrampft und ihre Füße taten ihr weh.
Natürlich sah sich Gideon sofort besorgt nach ihr um. Es war erstaunlich, was für ein Tempo der alte Mann an den Tag legte. Er war wohl doch noch ganz schön rüstig und wahrscheinlich gar nicht so alt, wie sie vermutet hatte.
„Es dauert nicht mehr lange“, sagte er tröstend.
Jenna rang sich ein müdes Lächeln ab. Es dauerte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr lange. Und jetzt ging es auch noch bergauf. Mühsam erklomm sie den großen Hügel und blieb atemlos auf seinem Kamm stehen. Atemlos aus zweierlei Gründen: Zum Ersten, weil dieser Aufstieg sie beinahe ihre letzte Kraft gekostet hatte und zum Zweiten, weil sie völlig fassungslos über das war, was sich ihr hinter dem Hügel offenbarte.
In einem grünen Tal lag sie, die Stadt Xadred. Es war eine große Stadt. Nicht so groß wie die meisten Städte, die Jenna kannte, aber sie war groß. Viele solcher staubigen Sandwege wie der, auf dem sie sich befanden, führten in ihr Inneres, sowie ein breiter, dunkler Fluss, der aus den Bergen im Osten zu kommen schien. Hohe, graue Mauern umschlossen die dichtgedrängten Häuser und Türme und schützten sie vor ungebetenen Gästen.
Jenna war wie erstarrt. Dies war ein Ort, wie sie ihn noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte, wenn überhaupt dann als Zeichnung in einem Geschichtsbuch. Es war eine mittelalterliche Stadt und die Bedeutung dessen, was sie da sah, drohte ihr den Verstand zu zersprengen. Ein hohles Gefühl kroch langsam aus einer Ecke ihres Körpers hervor und füllte sie bald vollkommen aus. Ihr war schlecht und schwindelig und sie hatte das Gefühl, als müsse sie gleich in Ohnmacht fallen. Sie wankte ein wenig, hielt sich aber weiterhin wacker auf den Beinen. Eigentlich war sie ja auch nicht der Typ für Ohnmachtsanfälle.
Sie atmete tief durch. Bloß nicht den Kopf verlieren. Dafür musste es eine natürliche und logische Erklärung geben. Ganz gewiss. Es gab auch heutzutage noch gut erhaltene mittelalterliche Städte – auch hier in England. Alnwick zum Beispiel oder Canterbury. Dass es sich hierbei um keine dieser beiden Städte handelte, wusste Jenna sofort. Dazu war diese Stadt nicht groß genug. Aber das hieß nicht, dass sie sich nicht mehr in England befand. Es gab viele Gegenden, die sie nicht sonderlich gut kannte. Warum sollte sich in einer dieser Regionen nicht auch diese Stadt befinden? Vielleicht war das hier ja auch die neuste Ferienattraktion oder die Kulisse für einen Film, oder sie träumte ganz einfach. Sie durfte nur nicht die Kontrolle über sich verlieren, nicht verzweifeln, nicht sofort glauben, was ihre Augen ihr da vorgaukeln wollten. Hier gab es etwas, das sie mit ihrem Durchschnittsverstand nicht begreifen konnte – na und?! Es würde sich schon alles aufklären, alles würde wieder gut werden.
„Kommst du?“, fragte Gideon, der schon ein Stück den Hügel hinunter gelaufen war. Er sah sie prüfend an und der Ausdruck in seinen sanften Augen sagte ihr, dass er anscheinend wusste, was in ihr vorging. Er schien sogar richtig besorgt. Der gute Mann. Selbst wenn er verrückt war und sich tatsächlich alles logisch erklären ließ – er wollte ihr helfen und sorgte sich um sie.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich vorsichtig.
Jenna nickte nur. Zu mehr war sie nicht fähig. Zu viele Gedanken rasten durch ihren Kopf, zu viele Ängste und Gefühle. Sie musste sich unbedingt wieder beruhigen und sie spürte, dass Gideons Gegenwart ihr dabei helfen konnte. Also ging sie auf wackeligen Beinen zu ihm hinunter. Am besten war es, alles auf sich zukommen zu lassen, Ruhe zu bewahren und wohl überlegt die nächsten Schritte zu tun. Zum Verzweifeln blieb nachher noch Zeit genug.
„Können wir weitergehen?“, fragte Gideon sanft.
Erneut nickte Sie und gemeinsam setzten sie den Weg fort. Doch je näher sie der Stadt kamen, desto bedrohlicher und echter wirkte diese auf Jenna. Sie konnte Menschen auf den Palisaden der Mauern erkennen, Menschen in schweren Rüstungen, die so poliert waren, dass sich das Sonnenlicht in ihnen brach. Und sie sah Leute, die in die Stadt hineingingen, die genauso gekleidet zu sein schienen wie Gideon auch. Es gab keine Kamerateams, keine Touristen, kein Anzeichen dafür, dass auch nur ein kleines Detail an diesem Ort und den Menschen nicht echt war.
Ihr Magen verkrampfte sich noch ein wenig mehr, als einer der Ochsenkarren, die aus der Stadt gekommen waren, klappernd an ihr vorbei wackelte. Der Mann, der auf dem Bock saß, trug die altertümlichen Lumpen eines Bauern und nickte ihnen mit einem freundlichen, beinahe zahnlosen Lächeln zu, bevor er seinen Ochsen mit der Rute dazu anstachelte, ein wenig schneller zu laufen.
Es war so gut wie unmöglich, dass alle Menschen in dieser Gegend verrückt waren und denselben seltsamen Fetisch wie Gideon hatten. Ein beängstigender, unerträglicher Gedanke drängte sich langsam in Jennas Verstand. Was war, wenn die beiden Alten sie nicht angelogen hatten, wenn sie sich tatsächlich in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit befand? Was war, wenn all das Gerede von Magie, all die Geschichten, die Melina ihr erzählt hatte, wahr waren? Dann war es auch möglich, dass Demeon übersinnliche Fähigkeiten besaß und sie hierher gebracht hatte, doch wie war das möglich? Und warum hatte er das getan? Nein – nein, das konnte nicht sein … Konnte nicht …
Jenna spürte, wie ihre Knie plötzlich wieder weicher wurden. Ihr Herz klopfte hart in ihrer Brust, in ihren Ohren begann es zu rauschen und Tränen stiegen in ihre Augen. Sie musste stehenbleiben, sich setzen … Das war einfach zu viel. Eine Hand schloss sich um ihren Oberarm und als sie den Kopf hob, sah sie in Gideons sorgenvolle braune Augen. Augen, die nicht bei ihr blieben, sondern immer wieder voller Angst zu einem Punkt hinter ihr wanderten.
„Jenna – du musst dich jetzt zusammenreißen!“, raunte er ihr zu und zog sie zu ihrem Erstaunen auf eines der gemähten Kornfelder, die den Weg zur Stadt säumten. „Du musst weiterlaufen, so als ob nichts wäre. Und du darfst sie nicht ansehen! Hörst du! Sieh sie nicht an!“
Jenna blinzelte den Alten irritiert an, ließ sich jedoch widerstandslos von ihm vorwärts schieben. Erst dann vernahm sie es auch: ein dumpfes Donnern aus der Ferne. Und als schließlich auch noch der Boden unter ihren Füßen zu beben begann, musste sie sich doch etwas zittrig umsehen. Nicht allzu weit von ihnen entfernt entdeckte sie eine große Gruppe von Reitern, die im wilden Galopp über die Felder auf sie zuschossen. Als sie den Weg erreicht hatten, zügelten sie ihre Pferde und ließen die robusten Tiere in einen gemächlichen Trab fallen. Gideon packte die taumelnde Jenna erneut mit erstaunlich festem Griff am Arm und zog sie vorwärts.
„Nicht hinsehen!“, stieß er angespannt aus. „Senke demütig den Kopf und lauf einfach weiter! Du bringst uns sonst beide in große Schwierigkeiten! Bitte, Jenna!“
Die Furcht in Gideons Stimme ließ sie seiner Bitte sofort nachkommen, auch wenn ein gefährliches Gefühl der ängstlichen Neugierde sie gepackt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis der Trupp der Reiter sie erreicht hatte und an ihnen vorbeizog. Jenna starrte verbissen den aufgewühlten, stoppeligen Boden an, über den sie stolperte, doch sie konnte ihre anderen Sinne nicht verschließen, die sich sofort auf die vermeintliche Gefahr ausrichteten. Sie hörte das Schnaufen und Schnauben der Reittiere, dass Quietschen von Leder, das Klirren von Metall. Sie fühlte die Wärme, die von den Pferden ausging, roch den Schweiß von Tier und Mensch. Nach einer Weile konnte sie nicht mehr an sich halten und hob doch ganz zaghaft den Blick.
Für einen Augenblick stockte ihr der Atem und ihr Puls beschleunigte sich ein weiteres Mal. Die Männer, die an ihnen vorbei ritten, sahen zum Fürchten aus. Bis auf die leichten Rüstungen, die sie trugen, bestehend aus ledernen Schutzpanzern und Kettenhemden, waren sie sonst nur spärlich bekleidet. Überall lugte braune Haut hervor, die oftmals reichlich behaart war. Stattdessen waren sie bis an die Zähne bewaffnet. Jenna hatte gar nicht gewusst, wie viele verschiedene Arten von tödlichen Waffen es gab und das schnürte ihr die Kehle zu.
Die Krieger trugen fast alle halblanges bis langes zottiges Haar, das ungestüm im Wind wehte, und verfilzte Bärte. Sie erinnerten Jenna sehr stark an Wikinger. Sie hatte zwar noch nie einen real gesehen – wie auch? –, aber so hatte sie sich diese immer vorgestellt, nur dass diese Männer hier noch ein wenig wilder und blutrünstiger wirkten. Einige von ihnen hatten vernarbte Gesichter, Überbleibsel vergangener Kämpfe, und wenn sie sich nicht täuschte, gab es auch frische Blutspuren auf ihrer Haut und den Rüstungen. In ihren Blicken lag etwas beängstigend Kaltes, Unheil verkündendes, das Jenna einen Schauer nach dem anderen den Rücken hinunter jagte, auch wenn sie sie gar nicht ansahen, sie nicht einmal zu bemerken schienen.
Das dachte sie zumindest, bis sie ein wenig zu vorwitzig den Kopf hob und in das kälteste Paar Augen blickte, das sie jemals gesehen hatte. Blaues Eis und ein Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Jenna wollte den Blick senken, schnell wegsehen, doch sie konnte es nicht, wurde von diesen Augen festgehalten, die versuchten auf den Grund ihrer Seele zu blicken. So fühlte es sich jedenfalls für sie an.
Der dunkle Krieger, der auf seinem nun auf der Stelle tänzelnden Pferd hoch über ihr türmte, machte keine Anstalten, mit seiner Truppe weiter zu reiten. Stattdessen hielt er das unruhige Tier fest, zog die Brauen zusammen und musterte sie mit einer kaum zu ertragenden Intensität. Jenna bewegte sich nicht mehr. Sie war völlig erstarrt wie eine Maus vor einer Schlange und sie fühlte genau, dass sie in einer ähnlich bedenklichen Situation war. Diesem Mann drang seine Gefährlichkeit aus jeder Pore seines Körpers. Ein wildes, gereiztes Tier, dem danach war zu töten – obwohl es das heute schon einmal getan hatte. Das verrieten ihr die getrockneten Blutspritzer in seinem von einem ungepflegten Bart zugewuchertem Gesicht, das teilweise von Blut verklebte, dunkle Haar und das bedrohliche Lodern in seinen hellen Augen. Er wollte es wieder tun, brauchte nur einen kleinen Anlass dazu.
Für ein paar Herzschläge glaubte Jenna ihr letztes Stündlein hätte geschlagen – einfach nur, weil sie es gewagt hatte, diesen Menschen anzusehen – doch dann verzogen sich seine Lippen zu einem verächtlichen Lächeln, er riss sein Pferd herum und ließ es aus dem Stand in den Galopp springen, jagte zurück in die Mitte seiner Kameraden.
Jenna ließ den Atem heraus, den sie unbemerkt angehalten hatte, und schloss kurz die Augen. Dann wandte sie sich zu Gideon um, der sie mit blassem Gesicht und kopfschüttelnd einmal mehr am Arm packte und vorwärts zog.
„Chevax perbetir savan nagi“, vernahm sie auf einmal eine helle Männerstimme neben sich und hob erneut ungewollt den Blick. Natürlich war es ein weiterer der grimmigen Krieger, kleiner als der Mann mit den Eisaugen, aber nicht weniger bedrohlich. Er schien verärgert und spuckte ihr im nächsten Augenblick vor die Füße.
Jenna zuckte zurück und hob abwehrend die Hände. Sie hatte keine Ahnung, warum der Mann so wütend war und was er zu ihr gesagt hatte. Alles, was sie empfand, war Angst. Warum konnte er nicht weiterziehen wie die anderen auch?
„Hamat-di. Hamat-di“, erwiderte Gideon für sie mit demütig gesenktem Haupt. „Sel ido sar e folo jag. Hamat-di.“
Der Mann lachte verärgert und sein Habicht-Gesicht verzog sich dabei zu einer hasserfüllten Maske. Jenna wurde zur gleichen Zeit heiß und kalt, als der Krieger zu seinem Schwert griff und es mit einem sadistischen Grinsen zu ziehen begann, während er sich ein wenig zu ihr hinab beugte.
„Fero mi-so te faco zeribre …“, lächelte er, erstarrte jedoch in der Bewegung, als eine laute Stimme zu ihnen hinüber tönte.
Ihr Blick flog hinüber zu der Kriegertruppe, die sich bereits ein gutes Stück entfernt hatte. Einer der anderen Krieger hatte sein Pferd durchpariert, das nun ein wenig stieg, und rief dem Mann vor ihr etwas in einem strengen, ungeduldigen Ton zu. Wenn sie sich nicht irrte, war es der Mann mit den Eisaugen und er schien über dem Krieger vor ihr zu stehen, denn der machte plötzlich einen enttäuschten, mürrischen Eindruck und steckte sein Schwert wieder zurück. Mit einem letzten abfälligen Blick auf sie und Gideon trieb auch er wieder sein Pferd vorwärts und schloss sich dem weiter reitenden Trupp an.
„Großer Gott!“, stieß Gideon mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung aus, dann sah er sie entgeistert an. „Ist dir klar, wie gefährlich das gerade eben war?“
Jenna schluckte schwer und nickte dann beklommen. „Es … es tut mir so leid. Ich … ich … weiß nur nicht, was hier los ist … Ich …“ Sie schloss die Augen, atmete tief durch die Nase ein und wieder aus. Erst dann war sie dazu in der Lage, wieder einen vollständigen Satz zustande zu bringen. „Was waren das für Menschen?“
„Nadir-Krieger“, sagte Gideon leise mit einem verstohlenen Blick in Richtung der Männer. „ Es gibt nichts Schlimmeres!“
Jenna nickte. Das konnte sie sich leibhaftig vorstellen. Umso mehr wunderte es sie, dass die Wächter vor den Toren Xadreds diese Krieger nun wortlos passieren ließen.
„Sie haben das Sagen in Allgrizia“, erklärte Gideon weiter, als könne er ihre Gedanken lesen. „Niemand wagt es, sich ihnen in den Weg zu stellen, es sei denn er ist völlig verrückt. Die Menschen haben Angst vor ihrer Brutalität, ihrem Kampfgeschick und den magischen Kräften Nadirs.“
Jenna fühlte, wie bei diesen Worten erneut ihre so schön verdrängte Panik aufkam, ihr Verstand weiter damit zu kämpfen hatte, zu begreifen, was hier mit ihr passierte. Dies hier widersprach jeder Logik, konnte einfach nicht die Realität sein. Und doch spürte sie, dass es so war.
„Magische Kräfte?“, fragte sie mit zugeschnürter Kehle.
„Ja“, meinte Gideon. „Es gibt nicht viele, die solche Kräfte haben, aber wer sie besitzt, ist mächtiger, als man es sich vorstellen kann.“
Jenna war schlecht. Das alles wurde immer abstrakter, immer verrückter. Magie? So etwas existierte nicht!
Ganz ruhig, sprach sie sich zu. Panik wird dich nicht weiterbringen, sondern dir nur schaden. Du musst die Nerven behalten, versuchen das alles zu verstehen, logischer zu machen.
Gut – wenn das hier tatsächlich eine fremde Welt war, eine mittelalterliche Parallelwelt, dann hatte Demeon sie wahrscheinlich mittels übernatürlicher Kräfte hierhergebracht. Übernatürliche Kräfte konnte man auch als Magie bezeichnen. Und warum sollte es dann nicht auch hier noch jemanden geben, der solche Kräfte besaß? Sie sollte sich darüber freuen, denn vielleicht konnte dieser jemand sie ja dann auch wieder zurück in ihre Welt bringen. Gott! Klang das verrückt!
„Und wer … wer ist dieser Nadir?“, erkundigte sie ein wenig gefasster.
„Er ist der mächtigste Mann, den es je in dieser Welt gegeben hat“, antwortete Gideon fast ehrfürchtig. „Ein Magier, den bisher noch niemand besiegen konnte. Und er hat eine riesige Streitmacht aufgebaut, mit der er die Könige der meisten Länder besiegt und sie und ihre Truppen vernichtet hat und große Teile Falaysias beherrscht. Auch Allgrizia zählt leider zu seinen Besitztümern. Es heißt, er wurde in diesem Land geboren.“
Jenna hatte gar nicht bemerkt, dass sie während ihres Gesprächs weitergegangen waren, aber mittlerweile waren sie an dem großen Haupttor der Stadt angelangt und einer der Wachleute kam auf sie zu.
„Was wollt ihr in Xadred?“, fragte er in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass er diese Frage in seinem Leben schon allzu oft hatte stellen müssen.
„Wir möchten gerne unsere Ware an einen Händler bringen“, antwortete Gideon so höflich wie möglich.
„Was führt ihr mit euch?“, erkundigte sich der Wachmann gelangweilt.
„Nur Wolle, Herr“, sagte Gideon ergeben.
Der Wachmann gab sich nicht einmal die Mühe, ihre Beutel zu inspizieren, sondern winkte sie gleich durch.
„Ihr dürft passieren“, leierte er dabei.
Jenna lief beeindruckt durch den gewaltigen Torbogen. Die Häuser, die sie sah, waren genauso, wie sie sie aus den Geschichtsbüchern kannte, teils aus Holz, teils aus Stein, dicht nebeneinanderliegend, sodass die Straßen nur sehr schmal ausfielen. Es gab keine Bürgersteige, also tummelte sich alles auf den gepflasterten Gassen: Menschen, Hunde, Pferde, Wagen, alles, was eine mittelalterliche Stadt zu bieten hatte.
Als sie weiter hineingingen, trafen sie auf die ersten Marktstände an den Straßenrändern, die allerlei Sachen anzubieten hatten. Je mehr Stände auftauchten, desto belebter wurden die Straßen. Menschen fast aller Schichten eilten umher, um sich mit frischen Lebensmitteln oder anderen wichtigen Dingen einzudecken; Menschen in bürgerlicher Tracht, solche in einfachen, fast bäuerlichen Kleidern (…)