Leseprobe ‚Magisch Verflucht‘
Komm raus, komm raus …
„Achtundzwanzig … neunundzwanzig … dreißig! Ich komme!“ Elli versuchte so viel Enthusiasmus wie möglich in ihre Stimme zu legen, während sie noch eine Seite ihrer Zeitschrift umblätterte, den Artikel dort für uninteressant befand und ihren Lesestoff mit einem geschickten Wurf auf den Tisch direkt neben ihre Füße beförderte. Sie streckte sich genüsslich, bevor sie den Elan aufbrachte, endlich aufzustehen und nach ihrer Nichte zu suchen.
Anfangs hatte es ihr ja noch Spaß gemacht, durch das große Haus ihrer Eltern zu laufen und die vielen Verstecke der Fünfjährigen zu entdecken, doch mittlerweile wiederholten sich diese und es war nicht mehr sonderlich schwer, herauszufinden, wo Olivia steckte. Zumal die Kleine auch nicht sehr viel Geduld hatte und meist ziemlich schnell verdächtige Geräusche, wie zum Beispiel leises Kichern, von sich gab. Elli liebte ihre Nichte über alles, aber einen ganzen Tag herumzubekommen und das Mädchen zu bespaßen, war auf Dauer dann doch etwas anstrengend, zumal Olivia auch noch ein sehr aktives Kind war.
Als Elli zwei Tage zuvor in ihr Heimatstädtchen zurückgekehrt war, hatte sie das eigentlich mit dem festen Vorsatz getan, die ersten drei Wochen ihrer Semesterferien auf der Couch ihres Elternhauses zu verbringen und sich vom Fernseher berieseln zu lassen. Gehirn aus, Entspannung rein. Ihrer Meinung nach hatte sie sich das nach dem ersten Semester des Medizinstudiums redlich verdient und nicht vorgehabt, mehr Bewegung in ihren Tagesablauf zu bringen, als von der Küche zum Wohnzimmer und von dort auch gelegentlich zum Bad zu schlurfen.
Zu ihrem ausgefeilten Ferienplan hatte anfangs auch gehört, dass ihre Mutter sie bekochte und Sam, ihr Stiefvater, sie am Abend mit witzigen Geschichten von der Arbeit unterhielt. Als ihre Mutter ihr jedoch vor zwei Wochen begeistert erzählt hatte, dass Sam ihr zum Geburtstag eine romantische Mittelmeerkreuzfahrt geschenkt hatte, hatte sie diese beiden Punkte wohl oder übel von ihrer wunderschönen To-do-Liste streichen müssen.
Noch übler hatte ihr ihre Schwester Lissa mitgespielt. Gestern hatte sie mit Sack und Pack (Olivia eingeschlossen) vor der Tür gestanden, aufgelöst, mit verschmierter Schminke, die auf viele Tränen hingewiesen und Elli trotz ihrer Faulenzerabsichten dazu gebracht hatte, ihr sofort Hilfe anzubieten. Sie hatte Nudeln mit Tomatensoße für sie drei gekocht – das einzige Gericht, das sie ganz gut hinbekam – und sich, nachdem Olivia eines der Gästezimmer bezogen hatte, das ganze Drama angehört, das sich mal wieder im Hause Cooper abgespielt hatte.
Sechs Jahre trennten Elli von Lissa, oder besser Melissa, und genauso lange durfte sie nun schon das Drama miterleben, das ihre Schwester aus ihrer Beziehung zu William Cooper, ihrem Chef, Schrägstrich neuerdings Ehemann, machte. Elli hatte Will von Anfang an gemocht. Er war nett, witzig und intelligent und was das Beste war: Er wusste mit ihrer Schwester umzugehen, die einem mit ihren Temperamentsausbrüchen manchmal ganz schön auf die Nerven gehen konnte. Darüber hinaus besaß er die Geduld, um die gelegentlichen Streitereien wenn möglich auszusitzen und den nötigen Dickschädel, um sich zur Wehr zu setzen, wenn Lissa den Bogen überspannte.
Meist konnten die beiden ihre Konflikte gut allein klären und waren danach wieder ein Herz und eine Seele. Nur manchmal – und die Vorfälle wurden glücklicherweise immer seltener – packte Lissa ihre Sachen und ihr gemeinsames Kind und suchte für ein paar Tage Zuflucht im elterlichen Haus. Fast immer rief sie dann auch Elli an, um sich bei ihr auszusprechen und von ihr zu hören, dass Will sie garantiert niemals verlassen und mit Sicherheit auch nicht fremdgehen würde; dass er sie liebte und zurückwollte und so weiter und so fort.
So war es auch dieses Mal gewesen, mit dem kleinen, feinen Unterschied, dass Elli allein im elterlichen Haus war und nun auch noch die Rolle ihrer Mutter einnehmen musste – was im Endeffekt hieß: Kochen, zuhören, trösten und am nächsten Tag auf Olivia aufpassen.
Lissa hatte vor ungefähr einer Stunde angerufen und sie angefleht, ihre Nichte auch noch ins Bett zu bringen, weil sie sich mit Will (selbstverständlich) wieder versöhnt hatte und die beiden nun einen romantischen Abend mit eventueller Einkehr im Hotel in Leicester miteinander verbrachten. Aus eigener Sicht hatte Elli viel zu schnell nachgegeben, aber was tat man nicht alles für die Familie und das Babysitten hatte ihr ja anfangs auch Spaß gemacht. Aber jetzt …
Sie trottete in die Waschküche, sah erst in die eine Richtung und dann blitzschnell hinter die Tür.
„Hab ich d…“ Sie brach ab, weil Olivia sich dieses Mal wohl doch ein anderes Versteck ausgesucht hatte. Auch gut. Die nächsten vier Lieblingsplätze waren nicht viel weiter weg.
Elli gähnte herzhaft und warf einen Blick auf die Uhr, bevor sie sich auf den Weg ins obere Stockwerk machte. Fast neun. Es war zwar Samstag, aber langsam war es an der Zeit, den kleinen Lachsack ins Bett zu stecken. Das war eindeutig die letzte Versteckspielrunde.
Zu Ellis großem Erstaunen befand sich Olivia jedoch weder in Lieblingsversteck Nummer zwei (unter dem Bett im Gästezimmer), noch in Nummer drei (im Schrank ihrer Großeltern) oder vier (hinter dem dunklen Vorhang im Schlafzimmer der Großeltern). Es war das Knarren über Elli, als sie durch den Flur lief, das sie darauf brachte, dass ihre Nichte doch noch ein neues Versteck ausprobiert hatte.
Das Haus von Ellis Eltern besaß einen geräumigen Dachboden, den man über eine fest installierte Treppe erreichen konnte. Die in der Decke eingelassene Klappe war nicht sonderlich schwer, weil Ellis Mum immer Angst davor gehabt hatte, dass diese mal jemandem auf den Kopf fallen könne, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass Olivia sie hatte öffnen können. Zudem besaß das Mädchen die natürliche Neugierde und den Mut der Carters und schien sich auch vor alten Dachböden nicht zu fürchten, was eigentlich ganz schön war, wenn es für Elli nicht bedeutet hätte, nun auch noch eine weitere Treppe hinaufsteigen zu müssen.
Sie seufzte leise und fügte sich ihrem Schicksal. Lange würde es ja nun nicht mehr dauern, bis sie ihren Platz vorm Fernseher einnehmen und sich von einem belanglosen Film in den Schlaf brabbeln lassen konnte.
Beim Öffnen gab die Klapptür ein gruseliges Knarzen von sich und Elli steckte erst einmal nur ihren Kopf hindurch, um sich kurz umzusehen. Die kahle Glühbirne, die an ihrem Kabel von der Decke hing, war angeschaltet worden und spendete ein mattes Licht, in dem sich die meisten hier eingelagerten Sachen ganz gut erkennen ließen. Hauptsächlich befanden sich hier Kisten mit den Dingen, die Ellis Eltern ausrangiert hatten, jedoch aus emotionalen Gründen noch nicht wegschmeißen wollten. Dann gab es da noch einige alte Möbel: Zwei Schränke, eine Kommode, einen Sessel und zwei Regale, die mit Büchern und unbrauchbarem Krimskrams vollgestopft waren.
Zu Ellis großer Überraschung konnte sie Livs Kopf ganz offensichtlich neben dem Sessel hervorlugen sehen. Sie hatte ihn gesenkt und ihr Blick war konzentriert auf etwas gerichtet, das sie wahrscheinlich in den Händen hielt.
Elli schlüpfte durch die Luke und näherte sich ihrer Nichte auf leisen Sohlen.
„Hab dich!“, rief sie laut, als sie den Sessel erreicht hatte, doch das Kind zuckte nicht einen Deut zusammen, sah sie noch nicht einmal an.
Elli runzelte irritiert die Stirn und umrundete den Sessel. Ihre Nichte saß im Schneidersitz am Boden und in ihrem Schoß ruhte ein altes, sehr dickes Buch. Sie hatte es in der Mitte aufgeschlagen und starrte eine Illustration an, die eine Prinzessin auf der Flucht vor einer Hexe zeigte. Schwarzes Haar, weiße Haut, rote Lippen. War das ein Märchenbuch? Die Schrift war alt, aber noch zu entziffern und Elli fand im Text schnell den Namen, den sie gesucht hatte: Schneewittchen.
Sie hatte gar nicht gewusst, dass alte Märchen Kinder von heute noch derart faszinieren konnten. Sogar Kinder, die noch gar nicht lesen konnten.
Elli ging neben Liv in die Hocke. „Ist dir das Versteckspielen mit deiner alten Tante zu langweilig geworden?“, fragte sie lächelnd.
Ihre Nichte sah immer noch nicht auf, schien wie in Trance zu sein. Ellis Lächeln verschwand und anstatt weiter verbal mit ihr Kontakt aufzunehmen, griff sie einfach nach dem Buch und zog es ihr aus den Händen. Ein seltsames Kribbeln erfasste ihre Finger, wanderte durch ihre Arme und versank schließlich in ihrer Brust.
„Nein!“, stieß Liv entgeistert aus und ließ ihr damit keine Zeit, sich über die eigenartige Reaktion ihres Körpers zu wundern. Die Kleine versuchte angestrengt, das Buch zurück auf ihren Schoß zu ziehen. „Ich hab das gefunden! Es gehört mir!“
Elli hielt es eisern fest und griff nach Olivias Kinn, zwang sie dazu, sie endlich anzusehen.
„Liv, beruhige dich!“, forderte sie. „Ich will dir das doch nicht wegnehmen! Du sollst nur mit mir sprechen!“
Olivia zog noch einmal sehr viel weniger nachdrücklich am Einband und ließ dann schließlich los. „Okay, aber du behältst es nicht.“
„Warum sollte ich?“, fragte Elli verwundert. „Es ist nur ein altes Märchenbuch und die meisten Geschichten davon kenne ich ohnehin schon.“
„Es ist verzaubert“, behauptete Liv und nickte begeistert, weil Elli sogleich den Kopf schüttelte. „Doch – ist es!“
„Hm“, machte Elli und sah hinüber zur Dachluke. „Selbst wenn, können wir seinen Kräften erst morgen genauer auf den Grund gehen. Du gehörst jetzt ins Bett.“
Liv zog einen Flunsch und schüttelte den Kopf. „Das geht nicht.“
„Nein?“, hakte Elli mit einem kleinen Lachen nach.
„Nein, denn das Buch spricht mit mir“, behauptete ihre Nichte mit großen Augen. „Es sagt, dass du es mir vorlesen sollst!“
„Tut es das?“, erkundigte sich Elli schmunzelnd und entschloss sich dazu, sich auf das kleine Spielchen einzulassen. Sie hob das Buch an ihr Ohr, tat so, als würde sie aufmerksam lauschen.
„Oh ja, jetzt kann ich es auch hören. Aber es sagt noch etwas anderes.“
Liv sah sie gespannt an. „Was denn?“
„Dass ich dir erst eine Geschichte vorlesen darf, wenn du dir die Zähne geputzt hast und in deinen Schlafanzug gekleidet im Bett liegst.“
Livs Augen verengten sich. „Das hat es nicht gesagt“, wusste sie sofort und Elli musste erneut lachen.
„Stimmt“, gab sie zu, „aber ich sage das. Und deine Tante ist heute die Tonangebende. Also – ab ins Badezimmer!“
Sie wies auf die Luke und erhob sich, sodass Liv gezwungen war, dasselbe zu tun – zumindest, wenn sie ihr kostbares, ‚verzaubertes‘ Buch nicht aus den Augen verlieren wollte.
Wie Elli schnell feststellte, war der alte Märchenschinken ein gutes Druckmittel. Ihre Nichte gierte so sehr nach den darin enthaltenen Geschichten, dass es keinerlei Zeitschinderei und Herumgequengel mehr gab. Sie putzte sich brav und sehr zackig die Zähne und schlüpfte auch sehr viel schneller als sonst in ihren Schlafanzug.
„Liest du mir jetzt vor?“, drängte sie, nachdem sie ins Bett gehopst war und Elli die Decke über sie gebreitet hatte.
„Klar“, gab diese sofort nach und kuschelte sich neben sie ins weiche Kissen, das schwere Werk in den Händen. „Welche Geschichte willst du denn hören?“
„Das Buch hat gesagt, du musst alles lesen“, erwiderte Liv vollkommen ernsthaft.
Elli musste lachen. „Ach, hat es das?“
Olivia nickte nachdrücklich und Ellis Blick richtete sich auf den abgegriffenen Einband.
‚Märchen aus aller Welt‘ stand dort in verschnörkelter Schrift. Mehr nicht. Kein Autorenname, kein Herausgeber. Lediglich ein paar seltsam aussehende goldene Zeichen umrahmten die Buchstaben. Elli fuhr sanft mit dem Finger über sie und für einen kurzen Augenblick sah es aus, als würde ein minimales Leuchten von ihnen ausgehen. Aber wahrscheinlich war das nur das Licht der Nachttischlampe, das von dem glänzenden Material reflektiert wurde.
Es war das leichte Kribbeln, das schon wieder durch ihren Körper wanderte, welches Elli den Atem anhalten ließ. Dieses Mal kroch es bis in ihre Schläfen, breitete sich dort aus und erzeugte in ihr einen merkwürdigen Drang, den Buchdeckel zu heben und mit dem Lesen anzufangen.
Sie schüttelte den Kopf. Was Müdigkeit und die Fantasie einer Fünfjährigen so mit einem anstellten …
Sie räusperte sich, bevor sie auf den erwartungsvollen Blick ihrer Nichte reagierte.
„Nun, was hältst du davon, wenn ich mit der ersten Geschichte anfange und aufhöre, wenn du eingeschlafen bist?“, schlug sie vor.
„Ich schlafe nicht ein“, behauptete Liv stolz. „Also musst du doch alles lesen.“
Elli schmunzelte in sich hinein, kannte sie ihre Nichte doch viel zu gut. Meist hielt sie kaum mehr als zehn Minuten durch und einige Märchen waren ziemlich lang.
„Wenn du meinst …“, murmelte sie und schlug das Buch endlich auf. Die Lampe neben ihnen flackerte ein paar Mal und Elli vernahm ein unheimliches Knistern, das von den vergilbten Seiten zu kommen schien. Der Spuk nahm jedoch ein jähes Ende und alles wirkte im nächsten Moment wieder normal.
„Nun lies endlich!“, forderte Liv etwas atemlos und obwohl es Elli eigentlich widerstrebte, sich zum gehorsamen Diener eines kleinen Kindes machen zu lassen, konnte sie nicht anders. Sie begann zu lesen: „Es war einmal vor langer, langer Zeit …“
‚Ende‘ stand in verschnörkelter Schrift auf der vergilbten Seite. Der letzten eines mindestens fünfhundert Seiten umfassenden Werkes!
Elli blinzelte verwirrt und hob den Kopf. Ihr Nacken tat furchtbar weh und in ihrem Schädel machte sich sofort ein leichtes Stechen bemerkbar. Nein, wenn sie genau war, schmerzten eigentlich alle Muskeln ihres Körpers und ihre Beine kribbelten, weil sie eingeschlafen waren.
Sie unterdrückte ein Stöhnen und stutzte. Warum war es hier schon so hell? Ihr Blick flog hinüber zum Fenster. Draußen schien bereits wieder der Tag anzubrechen und sie konnte das muntere Zwitschern der Vögel hören. Sie sah auf ihre Armbanduhr, deren Zeiger sie schon wunderbar erkennen konnte, und erstarrte. Ihre Augen weiteten sich. Vier Uhr dreißig?!! Wann war das denn passiert?!! Und hatte sie ihrer Nichte tatsächlich das ganze Buch vorgelesen?
Sie betrachtete Olivias entspanntes Gesicht. Das Mädchen schlief tief und fest und in Elli regte sich die Erinnerung daran, dass Liv, wie gewohnt, schon in der Mitte des ersten Märchens eingeschlafen war. Nur sie selbst hatte nicht aufhören können, hatte gelesen und gelesen und gelesen … nicht still für sich, sondern laut, als ob sie gewollt hätte, dass die ganze Nachbarschaft sie hörte. Was war nur in sie gefahren?!
Sie sah wieder hinab auf das Buch. Ende. Fünfhundert Seiten. Nein, niemals hatte sie alles gelesen! Sie war mit Sicherheit irgendwann ebenfalls eingeschlafen. Kein Wunder, dass ihr alles wehtat.
Ganz vorsichtig schlug sie das Buch zu und erhob sich steif von Livs Bett. Das Stechen in ihrem Kopf wurde stärker und bekam nun auch noch Unterstützung von einem leichten Schwindelgefühl, das sie eher zur Zimmertür taumeln als laufen ließ. Was sie jetzt ganz dringend brauchte, war ihr eigenes weiches Bett und eine ordentliche Mütze voll Schlaf. Mit großer Mühe erreichte sie dieses, ohne überall anzustoßen und sich auch noch unzählige blaue Flecke zu holen. Wie ein nasser Sack fiel sie auf die Matratze und hatte kaum noch die Kraft sich ordentlich zuzudecken, bevor ihre eigene Müdigkeit sie übermannte …
„Du bist mein Prinz“, sagte die junge Frau zu Elli und strich ihr lächelnd das Haar aus der Stirn. Sie waren beide nackt, lagen dicht aneinander gekuschelt zwischen zwei warmen Wolldecke inmitten eines Berges aus Stroh.
„Prinz?“, wiederholte Elli mit einem leisen Lachen und einer Stimme, die eindeutig nicht ihre eigene war. Zu tief, zu männlich war sie. Dennoch gehörte sie in gewisser Weise zu ihr – zumindest zu dem jungen Mann, in dessen Körper sie augenblicklich steckte und der gerade so glücklich war, dass er den starken Drang verspürte, die ganze Welt umarmen zu müssen.
„Ja“, bestätigte die dunkelhaarige Schönheit an ihrer Seite mit einem strahlenden Lächeln. „Meine Großmutter hat mir, als ich noch klein war, oft aus einem Märchenbuch vorgelesen, das in unserer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde, und mich damit vollkommen verdorben. Ich habe damals beschlossen, mich niemals mit etwas Geringerem als einem Prinzen zu vermählen und da ich meine Lebensziele niemals aus den Augen verliere und keine Kompromisse eingehe, musst du ein Prinz sein.“
Elli lachte wieder und drückte einen sanften Kuss auf die Stirn ihrer großen Liebe. „Wenn du das sagst – Prinzessin“, erwiderte sie.
Die junge Frau hob ihre Hand auf Augenhöhe und betrachtete glücklich den goldenen Ring, der ihren Finger zierte. „Ich kann es immer noch kaum glauben“, wisperte sie. „Wir haben es wirklich getan. Allen Widerständen zum Trotz.“
Elli nickte und ein Hauch von Sorge und Trauer trübte ihr Gemüt. „Und genau deswegen liegen wir jetzt im Stroh auf dem Heuboden und nicht in den weichen Kissen eines Himmelbetts.“
„Sag das nicht so, als wäre es das Furchtbarste, das du mir antun konntest“, wurde sie sofort gerügt. „Wichtig ist nur, dass wir zusammen sind und einander die ewige Treue geschworen haben. Unsere Liebe ist so stark – sie wird dafür Sorge tragen, dass wir miteinander glücklich werden. Wir schreiben unser eigenes kleines Märchen.“
„Das schönste und glücklichste, das die Welt je gesehen hat“, stimmte Elli ihr zu und zog sie gleich noch fester an sich.
Die junge Frau bettete ihren Kopf auf ihre Brust und seufzte leise. „Und wenn sie nicht gestorben sind …“
Nöööt. Nööt. Nööt.
Elli konnte hören, wie der junge Mann den Satz beendete, aber sie befand schon nicht mehr in seinem Körper, wurde von dem unangenehmen Alarm ganz in ihrer Nähe gnadenlos aus ihrem Traum gerissen. Innerhalb von Sekunden war sie wieder in der Realität, starrte mit aufgerissenen Augen die Decke über ihr an.
Nööt. Nööt. Nööt.
Der digitale Wecker auf ihrem Nachttisch zeigte sechs Uhr dreißig an und war wohl der Meinung, dass dies genau richtige Zeit war, um eine Studentin in den Semesterferien zum Aufstehen zu zwingen. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen, drehte sich Elli auf die Seite und streckte die Hand nach dem teuflischen Ding aus, nicht bereit schon jetzt unter ihrer schönen, warmen Decke hervorzukriechen. Sie hatte gerade mal zwei Stunden Schlaf bekommen! Nur leider war ihr Arm zu kurz, um das dumme Teil aus ihrer derzeitigen Position zu erreichen.
Zähneknirschend rutschte sie ein Stück näher heran. Wenn das so weiterging, war sie gleich zu wach, um wieder einzuschlafen.
„Blödes Scheißding!“, grollte sie und versuchte, den Wecker mit den Fingern zu erreichen. „Mann! Verrecke endlich!“
Das Gerät gab ein kurzes Knistern von sich und dann erstarb nicht nur der nervige Alarmton, sondern gleich die ganze Anzeige. Nur wenig später drang Elli der Geruch von verbranntem Plastik an die Nase.
Sie blinzelte und ließ ihre Hand sinken, während sie den Wecker fassungslos betrachtete. Er war in der Tat ‚verreckt‘. Wahrscheinlich an Altersschwäche, da er mindestens zehn Jahre auf dem Buckelgehabt hatte. Was für merkwürdige Zufälle es doch manchmal gab!
Elli wollte es sich gerade wieder in ihrem Bett bequem machen, als sich die Tür ihres Zimmers öffnete und Olivia zaghaft hineinspähte. Ihr Schniefen allein genügt, um auf der Stelle zu wissen, dass etwas nicht in Ordnung war.
„Oh, Süße, was ist denn los?“, gab Elli von sich und streckte die Arme in Richtung des Mädchens aus.
Liv eilte mit einem leisen Schluchzen zu ihr hinüber und warf sich in ihre Arme, ließ sich von Elli sanft aufs Bett ziehen.
„Ich … ich hab so schlimm geträumt“, kam es der Kleinen nur stockend über die Lippen, während sie sich ganz fest an Elli kuschelte und ihr Gesicht gegen ihre Brust drückte.
„Oh je“, erwiderte diese voller Mitgefühl. „Willst du mir davon erzählen?“
Liv nickte stumm und schluckte schwer. „Ich … ich hab mit meinen Freunden verstecken gespielt und … und es hat richtig Spaß gemacht. Aber dann kam auf einmal ein Wolf – ein riiiesiger – und er … er hat alle gefressen. Außer mich, weil ich mich so gut versteckt hatte.“
„Na, da habe ich ja was mit dem Märchenbuch angerichtet“, seufzte Elli schuldbewusst. „Ich selbst bekomme kaum ein paar Stunden Schlaf und du wirst von Albträumen geplagt.“
„Meinst du, ich hab darum von dem Wolf geträumt?“, schniefte Liv. „Weil er in den Geschichten vorkam?“
„Ganz bestimmt“, erwiderte Elli und strich ihr tröstend über das Haar.
„Dann gibt es hier bei uns keinen Wolf?“, fragte ihre Nichte hoffnungsvoll.
„Hier im Haus so und so nicht und auch in der Umgebung von Ferry Bridge hat es schon seit Ewigkeiten keinen mehr gegeben“, konnte Elli sie weiter trösten. „Davon abgesehen, sind Wölfe ohnehin nicht für uns Menschen so gefährlich, wie viele Menschen glauben, weil sie sehr scheue Tier sind. Du brauchst dir also wirklich keine Sorgen machen. Es war nur ein doofer Traum.“
Liv atmete erleichtert auf und gähnte dann herzhaft.
„Was hältst du davon, wenn wir zwei uns noch eine Mütze Schlaf hier in meinem Bett gönnen?“, schlug Elli vor, weil sie fühlen konnte, dass sich auch die Kleine in der Nacht nicht wirklich erholt hatte.
Ihre Nichte nickte sofort begeistert und rutschte ein kleines Stück von ihr weg, sodass Elli sich bequem hinlegen konnte.
„Wenn wir ausgeschlafen sind, frühstücken wir gemütlich“, murmelte sie bereits mit geschlossenen Augen. „Und danach gehen wir zur Bücherei und geben das Märchenbuch dort ab. Vielleicht freuen die sich ja darüber.“
Von ihrer Nichte kam keine Reaktion mehr und ihr gleichmäßiges Atmen deutete darauf hin, dass sie schon wieder eingeschlafen war.
‚Kinder von heute sind ganz schön sensibel‘, war das letzte, was Elli dachte, bevor auch sie wieder in der wohltuenden Schwärze des Schlafs versank.