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Leseprobe ‚Magisch Vereist‘

Eisiges Erwachen

Es war eisig kalt. Schnee fiel in dicken Flocken aus dem Himmelszelt, so dicht und schnell, dass Tilda ihre Umgebung nur noch in Schemen erkennen konnte. Außer ihr schien kein anderer Gast das Bedürfnis verspürt zu haben, einen winterlichen Spaziergang im Hotelpark zu machen. Wahrscheinlich war es den meisten schon zu spät, denn ab und zu lugte der runde Mond hinter den dicken Wolken hervor und ein paar Sterne blitzten am dunklen Himmelszelt auf. Wenn Tilda ehrlich war, wusste sie eigentlich gar nicht, wie spät es tatsächlich war … und warum sie überhaupt draußen war … oder wie sie hergekommen war.

Sie hielt irritiert inne, sah an sich hinab und schnappte überrascht nach Luft. Statt einer dicken Jacke und Thermohosen, erblickte sie ihren Pyjama und in Socken gehüllte Füße! Nass waren diese seltsamerweise nicht und auch wenn es so kalt war, dass ihr Atem in kleinen Rauchwolken in den Himmel stieg, fror sie nicht. Somit war auszuschließen, dass sie schlafwandelte, was nur noch eine Erklärung für diese eigenartige Situation zuließ: Sie träumte.

Eine Bewegung nicht allzu weit von ihr entfernt ließ sie den Kopf heben und die Augen verengen, um in dem Schneegestöber besser etwas zu erkennen. Eigentlich war das gar nicht nötig, denn die Gestalt, die im nächsten Moment zwischen den Bäumen hervor und in das Licht der Laterne am Wegesrand trat, hob sich überdeutlich von ihrer Umgebung ab. Es war eine Frau mit feuerroten, lockigen Haaren, die von einem glitzernden Diadem gekrönt wurden, gekleidet in ein weißes, altertümliches Kleid mit langer Schleppe. Ein überirdisches Leuchten schien von ihr auszugehen und Eiskristalle stiegen mit jedem Schritt, den sie tat, wie die Funken eines Feuers von ihrem Kleid auf.

Tilda schauderte es, denn die Frau kam mit starrem Blick direkt auf sie zu. Seltsame Worte drangen an Tildas Ohren, ohne dass die Fremde ihre Lippen bewegte, und ihr ganzer Körper begann zu kribbeln. War das nicht die Schneekönigin, deren Statue Flynn ihr im Park gezeigt hatte? Warum war sie plötzlich lebendig? Und was wollte sie von ihr?

Du träumst, erinnerte sie sich selbst. Alles, was du tun musst, um diesem Albtraum zu entkommen, ist aufzuwachen!

Natürlich! Aufwachen! Einfach war das nicht, doch als die Schneekönigin sie erreicht und nun auch noch die Hand nach ihr ausstreckte, war der Schrecken endlich groß genug, um sich aus den Fängen des Traums zu befreien. Entsetzt nach Luft schnappend fuhr Tilda aus dem Schlaf auf, direkt in eine sitzende Position. Keuchend und mit rasendem Herzschlag sah sie sich um. Fenster, Kleiderschrank, Nachttisch, ihr Koffer auf einem der Sessel. Ja, sie befand sich eindeutig in ihrem Hotelzimmer und nicht im Park.

Erleichtert atmete sie auf, hielt jedoch sofort inne, denn wie in ihrem Traum hatte ihr Atem eine sichtbare Wolke in der Luft erzeugt. Erneut stieß sie Luft aus, mit demselben Resultat: Dampf bildete sich direkt vor ihrem Gesicht.

Tilda blinzelte irritiert, denn kalt war ihr eigentlich nicht, also konnte die Heizung nicht aus sein, denn draußen lagen die Temperaturen sicherlich immer noch deutlich unter dem Gefrierpunkt. Zumindest hatte der Wetterbericht es so angesagt, als sie diesen kurz vor dem Schlafengehen noch schnell überprüft hatte. Allerdings fiel bereits Sonnenlicht durch die Fenster und wenn der Schnee schmolz, stieg die Luftfeuchtigkeit und diese konnte den Atem ebenfalls sichtbar machen.

Entschlossen schwang Tilda die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe und schlurfte zur Fensterfront ihres Zimmers. Wie erwartet wurde sie dort von dem Anblick derselben märchenhaften Winterlandschaft begrüßt, die sie schon am vorangegangenen Tag in Verzückung versetzt hatte. Zusätzlich hatten sich an den Fenstern ein paar wunderschöne Eisblumen gebildet.

Versonnen lächelnd wollte Tilda deren Linien an der Innenseite des Glases folgen, doch zu ihrem großen Schrecken, zerstörte sie die Eiskristalle damit. Innen? Sie hatten sich innen gebildet?

Tilda trat einen Schritt zurück, sah sich nervös um und eilte schließlich hinüber zur Heizung. Kalt. Das konnte sie fühlen, obwohl sie selbst immer noch nicht fror. Verdammt! Offenbar hatte es einen Vorfall mit dem hoteleigenen Heizsystem gegeben. Oder es betraf nur den Heizkörper in ihrem Zimmer – das war zumindest das kleinere Übel, auf das sie hoffte. Sicher wissen konnte sie es erst, wenn sie hinüber zu ihrer Mutter und Schwester ging.

Entschlossen kramte sie ein paar warme Kleidungsstücke aus ihrem Koffer und zog sich an. Duschen und Zähneputzen konnte sie auch danach, wenn sie sichergestellt hatte, dass sich der Traumurlaub nicht in einen Albtraum verwandelt hatte.

Nur zehn Minuten später stand sie, zusätzlich eingehüllt in ihre dicke Winterjacke, vor dem Zimmer ihrer Familie und klopfte ungeduldig.

„Mum!“, drängelte sie, weil sich nichts hinter der Tür regte. „Nun mach schon auf! Ich muss ganz dringend mit euch sprechen!“

Keine Reaktion. Auch nicht, nachdem sie langsam bis zehn gezählt hatte. Mit einem flauen Gefühl im Magen kramte sie ihr Handy aus der Strickjacke. Das Display zeigte acht Uhr dreißig an. Gut möglich, dass ihre Mum und Rhea schon ohne sie frühstücken gegangen waren. Schließlich wussten sie, dass Tilda im Urlaub sehr gern möglichst lange ausschlief. Sie hatten ja nicht ahnen können, dass die Langschläferin der Familie gleich in der ersten Nacht von einem Albtraum aus ihrem seligen Schlummer gerissen werden würde.

Kurz überlegte Tilda doch erst der morgendlichen Reinlichkeitsroutine zu folgen, ihre wachsende Sorge bezüglich des Wohlergehens ihrer Familie und des Heizproblems hielt sie jedoch davon ab. Eilig machte sie sich auf den Weg hinunter zum Restaurant, in dem laut Werbeprospekt längst das reichliche Frühstücksbuffet aufgebaut sein musste.

Eigenartig war nur, dass sie auf der Haupttreppe noch kein Geschirr- und Besteckklappern hörte. Auch schien sich keiner der Gäste zu unterhalten. Waren die nur müde oder so flüsterleise, dass man sie erst hören konnte, wenn man den Speisesaal betrat?

Schwungvoll umrundete sie die letzte Ecke und streifte dabei einen der Kellner, der am Eingang des Saales stand.

„Sorry“, warf sie ihm beim Weitergehen über die Schulter zu, lief noch ein paar Schritte und hielt schließlich inne. Eine Gänsehaut kroch ihren Nacken hinauf und ihr Magen zog sich zusammen. Der Mann hatte sich eigentlich gar nicht geregt, hatte dagestanden wie in Stein gemeißelt.

Tilda schluckte schwer und schloss kurz die Augen.

Ganz ruhig, sprach sie sich selbst zu. Du befindest dich nicht mehr in deinem Traum. Sicherlich war das nur eine Sinnestäuschung.

Ganz langsam drehte sie sich um die eigene Achse und sah zurück zu dem Kellner. Er stand dort immer noch vollkommen unbeweglich, mit geöffneten, starren Augen und …

Tilda gab ein entsetztes Keuchen von sich, wich stolpernd zurück und stieß gegen einen Bestecktisch zu ihrer Linken. Laut scheppernd gingen Gabeln, Messer und Löffel zu Boden und Tilda stolperte erschrocken in die andere Richtung, rammte dieses Mal eine Küchenangestellte mit Schürze, die gerade einen Servierwagen heranschob.

Nein, das tat die Frau nicht, denn auch sie bewegte sich nicht, war wie der Kellner mitten in ihrer Beschäftigung vollkommen erstarrt und von einer bläulich schimmernden Eisschicht überzogen worden.

Tilda rang nach Atem, während sie kopfschüttelnd und vollkommen panisch weiter rückwärts wich. Einer der runden Tische wurde von ihr als nächstes zum Kippeln gebracht und nur durch ihr reflexartiges Zugreifen davor bewahrt, ebenfalls krachend umzustürzen. Lediglich die auf ihm stehende Blumenvase kippte um. Wasser lief dabei nicht aus. Wahrscheinlich war es gefroren, wie das Gesteck in ihr.

„Nein, nein, nein!“, rief Tilda laut. „Das ist nicht möglich!“ Sie sah sich panisch um. „Hilfe!“, rief sie schließlich kläglich. „Ich brauche Hilfe!!“

Niemand antwortete. Es war sogar stiller als zu der späten Stunde, zu der sie gestern auf ihr Zimmer gegangen war. Als wäre sie die einzige, die noch …

Ein trockenes Schluchzen kam über ihre Lippen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was zur Hölle war hier los?! Erlaubte jemand sich hier einen üblen Spaß mit ihr? Hatte ihre Mutter versehentlich einen Spezialurlaub mir Horror-Mystery-Detektivgeschichte gebucht. Oder es gar mit Absicht getan, um ihre Kinder zu überraschen? Zuzutrauen war ihr das ja.

Tilda schloss erneut die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Das brachte zumindest ein kleines bisschen Ruhe in ihr Inneres zurück. Entschlossen kniff sie sich in den Arm. Autsch! Ja, das tat weh. Somit war ein Traum offenbar auszuschließen. Nicht, dass sie das angenommen hatte, denn das alles fühlte sich viel zu real an.

Zurück zum Spezialurlaub. So verrückt das klang, es war augenblicklich die einzige sinnvolle Erklärung für die vereisten Menschen und die gruselige Stille im Hotel. Erstere mussten Wachsfiguren oder ähnliches sein. Die Frage war nur, warum sie die Einzige war, die hier frei herumlief und gezwungen war, das Rätsel zu lösen. Es mussten doch noch andere Gäste wach sein und begeistert versuchen dem Mysterium auf die Spur zu kommen.

„Hallo?!“, rief Tilda laut. „Ist hier irgendwer, der mir helfen kann? Ich hab so was noch nie gemacht und hätte gern eine Anleitung für das Spiel!“

Es blieb still. Nirgendwo regte sich etwas oder jemand. Frustriert schüttelte Tilda den Kopf. Antworten würde sie wohl am ehesten von ihrer Mutter bekommen, denn die hatte den Urlaub des Grauens schließlich gebucht. Nur wo waren sie und Rhea? Doch noch auf ihrem Zimmer? Möglich war das, denn auch die beiden ließen Urlaube gern mal gemütlich angehen.

Tilda setzte sich in Bewegung und schlug dieses Mal einen anderen Weg ein, weil sie auf keinen Fall an den gruseligen menschlichen Eisskulpturen vorbeigehen wollte. Der neue Weg führte sie in die Vorhalle. Ihre Brust verengte sich, weil dort ein ebenfalls vereister Mann in der Lounge saß und dem Hotelier an der Rezeption war dasselbe Schicksal zu Teil geworden.

Die sind nicht echt, beruhigte Tilda sich, als sie an diesem vorbeilief. Das ist nur Plastik … Kulisse für diesen üblen Spaß.

Dennoch erschauerte sie und begann zu rennen, sobald sie die Treppe erreicht hatte. Die wachsende Angst verlieh ihr Flügel und kaum fünf Minuten später stieß sie die Tür zum Flur ihrer Etage auf und hetzte diesen hinunter. Ein Zimmermädchen stand mit ihrem Wagen mitten im Weg und Tilda wollte schon erleichtert aufatmen – bis sie bemerkte, dass dieses ebenfalls mit einer Eisschicht überzogen war.

An die Wand gepresst schob Tilda sich an der jungen Frau vorbei und stürzte hinüber zum Zimmer ihrer Familie. Dieses Mal hämmerte sie wild mit der Faust gegen die Tür.

„Mum! Mach auf!“, schrie sie dabei. „Was für einen beschissenen Urlaub hast du uns da gebucht?! Ich finde das überhaupt nicht witzig! Wir hatten doch schon letztens Schwierigkeiten aus dem Escape-Room rauszukommen!“

Niemand antwortete. Auch nicht nachdem Tilda gegen die Tür trat. Entweder waren Rhea und ihre Mum nicht im Zimmer oder …

Tilda  schnappte nach Luft. Ihre Ohren begannen zu summen und die Beine wurden weich. Nein, nein, nein. Das war total irrsinnig. Vollkommener Blödsinn. Sie durfte das noch nicht einmal denken!

Mit Tränen in den Augen sah sie zurück zum Zimmermädchen. Hatten die nicht immer einen Generalschlüssel in der Tasche, damit sie in der Abwesenheit der Gäste deren Zimmer saubermachen konnten?

Tilda zwang sich zur Ruhe, straffte die Schultern und lief mit einigermaßen festem Schritt zu der wirklich realistisch aussehenden Eisstatue. Auch sie sah aus, als wäre sie mitten in der Bewegung eingefroren worden. Was natürlich nicht sein konnte.

Der Generalschlüssel hing in Form einer Plastikkarte am Putzwagen. Vorsichtig streckte Tilda ihre Hand danach aus, das Zimmermädchen dabei nicht aus den Augen lassend. Wenn dieses sich jetzt bewegte, würde sie einen Herzinfarkt bekommen. Doch das geschah nicht. Niemand hielt sie davon ab, sich die Karte zu nehmen, und in gewisser Weise war das auch enttäuschend. Wie sehr hätte sie sich jetzt über ein lautes „Nein! Das ist gegen die Spielregeln!“ gefreut, aber so einfach machte man es ihr offenbar nicht.

Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen, als Tilda sich erneut der Zimmertür mit der Nummer 39 näherte. Ihr Mund wurde trocken, während sie die Karte in den Schlitz steckte. Es piepte kurz, ein grünes Licht leuchtete auf und das Schloss öffnete sich.

„Mum?“, rief Tilda mit zitternder Stimme in den Raum, bevor sie eintrat.

Es blieb, wie gehabt: Niemand antwortete. Ihre Angst wuchs. Fünf Schritte musste sie noch machen, dann stand sie mitten im Zimmer vor den Betten. Ihre Mutter und Rhea schliefen offenbar noch. So musste es sein. Es konnte keinen anderen Grund für ihre Reglosigkeit geben. Durfte es nicht, denn das alles war ein Spiel und auf keinen Fall bitterer, vollkommen irrsinniger Ernst.

Ihre Beine gaben fast nach, als Tilda zwischen die Betten trat. „M-Mum“, hauchte sie erstickt.

Die Augen ihrer Mutter waren geschlossen und ihr Gesicht … Eisschicht … keine Regung … tot …

Tildas Ohren begannen zu summen, sie bekam keine Luft mehr und die Beine knickten unter ihr weg. Sie konnte sich halbwegs am Bettrand abfangen und setzte sich dennoch überaus schmerzhaft auf den Hosenboden. Tiefe Schluchzer drangen aus ihrem Mund, schüttelten ihren ganzen Körper, während die Tränen in Strömen liefen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte und ihr Verstand sich einschaltete.

Du hast noch nie von etwas Derartigem gehört, sprach sie sich selbst zu. Menschen, die zu Eisstatuen werden, gibt es nur in Märchen und Legenden. Ja, speziell in der Legende des Schlosses. Also ist es durchaus möglich, dass du mit deiner ersten Annahme recht hattest und du dich in der Tat in einem vom Hotel erdachten Mystery-Urlaubsspecial befindest. Wahrscheinlich haben sie von vielen Gästen Wachsfiguren hergestellt. Das da in den Betten sind nicht deine Mutter und Schwester!

Immer noch furchtbar zittrig auf den Beinen erhob Tilda sich. Tapfer blickte sie auf ihre Mum hinab und zog die Decke ein Stück hinunter. Sie trug ihren Pyjama, aber unter diesem flackerte ein rötliches Licht. Nein, es pulsierte in ihrem Inneren wie … wie ein Herzschlag. War das Elektrizität? Vielleicht das Lämpchen eines Apparates, der diesen ‚Spaß‘ vorgaukelte?

Tilda hielt inne. Sie hatte etwas gehört, dumpf, weiter entfernt. Ja, da war es noch mal. Es klang so, als würde jemand laut rufen. Sie war nicht allein!

Im Nu war sie an der Tür, stürzte hinaus auf den Flur.

„Hallo?!“, schrie sie so laut wie sie konnte.

Jemand antwortete auf dieselbe Weise. Das kam vom Treppengang. Tilda eilte weiter, quetschte sich am Zimmermädchen vorbei und riss nur eine halbe Minute später die Tür zum Treppenhaus auf – nur um mit voller Wucht mit jemandem zusammenzustoßen. Schon wieder. Sie prallte zurück, doch zwei kräftige Hände griffen nach ihr und hielten sie auf den Beinen.

Verblüfft blinzelnd starrte sie in Flynns blasses und ebenso überraschtes Gesicht.

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