Fantasy,  Fantasyreihen,  Leseproben

Leseprobe Diatar – Kind des Lichts

Ausweglos

Jaro wusste es. Sofort. Jeder Schmerz hatte seinen Preis: die Einschränkung der Bewegungsfreiheit; den Entzug der Kraft; den Verlust des Bewusstseins … Dieser hier war schärfer, tiefer, beängstigender als jeder andere, den er zuvor gefühlt hatte, seine Bedeutung eindeutig: Verlust des Lebens.

Er wollte es nicht denken und dennoch wusste er es. Fühlte es, bevor der Dolch wieder aus seiner Seite herausglitt, das Blut unaufhaltsam der Schneide folgte.

Jaro fuhr herum, rammte seinem hämisch grinsenden  Gegner den Ellenbogen gegen das Kinn und stieß ihm fast im selben Atemzug den Pfeil in die Kehle, den er gerade eben aus einem der anderen Monandor gezogen hatte. Die bleichgesichtige, dämonische Kreatur schnappte überrascht nach Luft, bevor sie Blut spuckend vor ihm in die Knie ging, sich den Hals haltend niedersank, mit einem Vorwurf in den Augen, der Jaro völlig kalt ließ.

Er taumelte zurück, hinein in die dicht und hoch wachsenden Farne des Waldes, versuchte auf den Beinen zu bleiben. Ihm blieb nicht viel Zeit, um dem Tod zu entkommen. Das Blut sickerte unter seinem ledernen Brustschutz in sein Hemd. Zu schnell. Zu viel auf einmal. Fahrig griff er nach dem kleinen Täschchen, das an seinem Waffengürtel befestigt war, und riss es ab, behielt die anderen Kämpfenden im Blick, während er es eilig öffnete und das kleine Fläschchen aus seiner Halterung löste. Es sah nicht gut aus für die Krieger seines Stammes. Das erkannte er, obwohl die Schmerzen seine Wahrnehmung beeinflussten, es schwermachten, dem Kampfgetümmel zu folgen. Die Monandor waren reißende Bestien, die neben ihren scharfen Dolchen und Schwertern, ihren vergifteten Pfeilen und Speerspitzen ihre Zähne und Krallen einsetzten, um ihre Gegner zu zerfetzen. Und es waren einfach zu viele.

Es kam fast einem Wunder gleich, dass sich nicht bereits ein weiterer dieser Dämonen auf ihn gestürzt hatte, dachte Jaro, als er den bitteren Sud, der seinen Blutfluss verlangsamen und ihm seine Stärke zurückgeben sollte, hastig hinunterstürzte und sich dabei weiter rückwärts ins Dickicht bewegte. Er konnte seinen Kameraden nicht mehr helfen und mit Sicherheit würde er seinem Feind weder Blut noch Fleisch überlassen, nicht erlauben, dass sie sich an seinem Körper bedienten, durch ihn noch weitere Stärke gewannen. Die Götter würden ihn und sein Volk bestrafen, wenn er das zuließ. Deswegen verließ er das Schlachtfeld, wie es die Gesetze vorschrieben, musste einen Weg finden, zurück nach Hause zu kehren, bevor er starb – oder seinen Körper an die Natur zurückgeben, durch Feuer oder Wasser.

Das Mittel begann zu wirken und Jaro gewann zumindest einen Teil der Kontrolle über seinen Körper zurück, bewegte sich schneller durch das Dickicht als zuvor, ließ die Kampfgeräusche, die Schreie seiner Brüder hinter sich. Sein Blut lief jedoch weiter, durchnässte bereits seine ganze linke Seite, sickerte in seine Hose. Und die Schmerzen wollten nicht verklingen, erschwerten ihm das Atmen und Denken.

Wohin? Wo war er überhaupt? Er kannte den Wald viel besser als jeder andere, weil er bereits als Kind den Großteil seiner Zeit darin verbracht hatte. Sogar bei Nacht – obwohl es nicht erlaubt war. In der Dunkelheit, die sich wie ein schwerer Mantel über jeden Baum und Busch legte, sah die Welt hingegen ganz anders aus, schwand alles Vertraute dahin – zu lange war es her, dass er sich wie einer der Dämonen in der Dämmerung hatte bewegen können. Und auf seine Sinne war durch die Schmerzen und den Blutverlust auch kein Verlass mehr.

Schritt für Schritt taumelte er weiter, stieß sich hier und dort von einem Baum ab, weil die Kraft in seinen Beinen nicht mehr reichte, um ein gleichmäßig schnelles Tempo beizubehalten. Schlussendlich musste er doch innehalten, lehnte sich gegen einen dickeren Baumstamm und umklammerte ihn in seiner Verzweiflung. Die Lider schlossen sich von ganz allein, waren wie Balsam vor seinen brennenden, müden Augen, konnten dort jedoch nicht lange verweilen.

Jaro drehte sich, drückte seinen Rücken gegen die raue Borke und nutzte den Stamm als Stütze, während er seinen Brust- und Schulterschutz löste und das mit Blut getränkte Hemd über der Wunde aufriss. Sie war tief und klaffend und würde mit Sicherheit nicht so schnell aufhören zu bluten – selbst mit der Droge, die er zu sich genommen hatte. Vielleicht waren auch wichtige Organe verletzt. Dann war er ohnehin verloren. Trotzdem dufte er noch nicht aufgeben, musste verhindern, dass er noch mehr Blut verlor.

Er griff nach dem oberen Rand seines Ärmels und riss ihn vom Rest des Hemdes ab. Seine Finger zitterten, als er das Stück Stoff zusammenlegte und im Anschluss auch seinen Waffengürtel öffnete, sich von jeglichem Ballast befreite. Kurz schloss er die Augen und presste die Lippen fest zusammen, versuchte sich auf das gefasst zu machen, was kommen würde. Gleichwohl entkam seiner Kehle ein unterdrückter Schrei, als er den zusammengerollten Ärmel auf seine Wunde drückte. Seine Ohren summten, ihm wurde schlecht und sein Sichtfeld noch dunkler, als es ohnehin schon war, doch er kämpfte sich durch die nahende Ohnmacht, schlang mit lahmen Armen den Gürtel um seinen Körper und zog ihn fest zu. Der Schmerz schwoll noch einmal an und ihm wurde schwarz vor Augen, aber als er die Lider gewaltsam aufriss und das Dröhnen in seinen Ohren nachließ, stand er noch, gestützt durch den Baum hinter sich.

Er atmete schwer und Schweiß lief ihm über Stirn und Schläfen, während sein Herz in seiner Brust tobte und sein Kreislauf gegen jedwede weitere Anstrengung rebellierte. Auch die zitternden Beine wollten ihn kaum noch tragen. Wie gerne hätte er sich jetzt hingelegt, seinem Körper in den verbleibenden Stunden noch etwas Ruhe und Frieden gegönnt. Er war allerdings noch nicht in Sicherheit, den Dämonen noch zu nah. Und jetzt, da die Nacht mit aller Macht anrückte, wurden sie noch gefährlicher als zuvor, konnten sie sich frei bewegen und mussten nicht mehr darum fürchten, im Kampf ihren Schutz vor dem Sonnenlicht zu verlieren.

Aus der Ferne drang ein dumpfes, gleichmäßiges Rauschen an sein Ohr und sein Verstand ordnete es schließlich einem Ort zu – langsamer als sonst, aber noch schnell genug, um wieder Regung in seinen Körper zu bringen. Der Wasserfall! Die Höhle! Sie würden ihn dort nicht finden, nicht schnell genug, um noch einen Nutzen aus seinem Leichnam zu schlagen. Er musste nur dorthin kommen.

Es war nicht viel Kraft, die er zu sammeln vermochte, aber sie genügte, um sich vom Baum abzustoßen und weiter zu laufen, stolpernd, keuchend. Seine Beine waren schwer wie Blei, die Muskulatur kaum noch zu gebrauchen und die Geräusche seiner Umwelt hallten seltsam in seinen Ohren wider, als wären sie weit weg und gleichzeitig ganz nah. Begleitet wurden sie von dem überlauten, viel zu schnellen Hämmern seines Herzens, den schweren Atemzügen, die gar nicht mehr wie die seinen klangen.

Das Rauschen der Wassermassen kam näher und vor Jaro öffnete sich das Dickicht des Waldes, gab den Blick auf die tiefe Schlucht frei, in die sich der Fluss Tilandor stürzte. Seine Beine zitterten so stark, dass sie kaum noch in der Lage waren, sein Gewicht zu tragen, doch er biss die Zähne zusammen, schleppte sich weiter, jetzt eher auf die Schlucht zu als in Richtung der Höhle. Wasser oder Feuer. So lautete das Gesetz. Und die Felswand war steil, schreckenerregend in ihrer Höhe. Der Tilandor würde seinen Körper aufnehmen und verschlingen. So war es das Beste.

Wenige Meter … nur noch wenige Meter. Der nächste Schritt war kein richtiger mehr, denn die Muskulatur seines Oberschenkels reagierte nicht, gab einfach nach. Der Aufprall auf dem Boden war hart, weil dem Grund bereits an einigen Stellen das Moos und Laub des Waldes fehlte, und der Schmerz, den er mit sich brachte, war so stark, dass Jaro innerhalb von Sekunden von der wattigen, wohltuenden Schwärze verschluckt wurde, die schon die ganze Zeit nach ihm gerufen hatte.

Seinen eigenen Herzschlag, den vernahm er als erstes wieder. Und darauf … eine Stimme? Nein. Das war das Rauschen des Wasserfalls. Es klang nur so ähnlich wie sein Name … Nein. Jetzt hörte er es ganz deutlich. Jemand flüsterte ihm etwas zu und die Stimme … sie war warm und sanft – im Gegensatz zu den Schmerzen. Diese furchtbaren Schmerzen. Er wurde zerrissen, zerfetzt. In der Mitte zerteilt. Über den Boden gezogen.

Ein verzerrter Schmerzenslaut drang an seine Ohren und es dauerte einen Moment, bis Jaro begriff, dass er von ihm selbst gekommen war. Seine Augen flogen auf. Schwarz, grau, alles war dunkel … verschwommene Schatten riesiger Felsen. Da waren seine Füße, die über den steinigen Boden geschleift wurden. Das Keuchen einer anderen Person an seinem Ohr. Schwerer, warmer Atem, der über seine Wange, seinen Hals blies. Arme unterhalb seiner Achselhöhlen, die sich um seine Brust spannten, ihn halbwegs trugen. Bleiche Arme, schlank und sehnig. Nicht die eines Mannes.

Jaros Augen fielen wieder zu. Seine Ohren summten und ihm war furchtbar schlecht. Die Dunkelheit kam erneut und ging wieder. Er wusste nicht, wie lange sie dieses Mal geblieben war, aber als er unter größten Mühen seine Augen öffnete, war es nicht mehr ganz so dunkel wie zuvor. Rötlich gelbes Licht flackerte um ihn herum und da war jemand direkt neben ihm, wandte sich ihm zu und sah besorgt auf ihn hinab. Die Kraft, sich zu erschrecken, besaß er nicht mehr, doch sein Verstand blieb zumindest solange wach, bis er das blasse Gesicht, das sich seinem näherte, zuordnen konnte.

Dämonenkind

Sechzehn Jahre zuvor …

Jaro hatte

gewusst, was passieren würde, wenn der Husten schlimmer, das Pfeifen in seiner Brust auch für alle anderen hörbar wurde. Er hatte gesehen, wie sie Miyrta weggebracht hatten, kurz vor der Dämmerung, und ohne sie zurückgekehrt waren. Das war erst zwei Monate her und sie war wie alle anderen nie wiedergekommen. Ihre Mutter hatte geweint. Nicht vor den anderen Stammesmitgliedern, aber still und leise, hinter ihrer Hütte. Jaro hatte ihr eines seiner selbst geschnitzten Holzpferde geschenkt, weil Miyrta sie so gerngehabt hatte, aber ihre Mutter hatte es nicht gewollt, war schnell in ihre Hütte verschwunden. Jaro hatte das Pferdchen darauf zu der Lichtung gebracht, ganz nahe beim Dorf, wo die kleineren Kinder am Tage immer spielen durften und er seine Freundin zum ersten Mal getroffen hatte. Dort hatte er es an Miyrtas Lieblingsbaum vergraben, in der Hoffnung, dass die Geister der Erde es zu ihr bringen würden.

Für ihn würde keiner etwas Derartiges tun. Er hatte nicht so viele Freunde. Niemand gab sich gern mit dem dünnsten, schwächlichsten Kind des Stammes ab; mit jemandem, der seit seiner Geburt jede Krankheit bekam, die das Dorf geißelte. Acht Jahre war er jetzt alt und in jedem dieser Jahre hatte es mindestens zweimal seinetwegen ein Shurto gegeben – eine Versammlung, in der die Ältesten die Geister der Natur anriefen, um ihren Rat zu erhalten, Heilung zu erbitten. Jedes Mal waren die Geister gnädig gewesen und einige hatten schon von einem Wunder gesprochen, weil sie Jaro derart oft eine Chance gaben, sein armseliges Leben weiterzuführen. Doch dieses Mal waren sie nicht auf seiner Seite gewesen.

Niemand hatte Jaro etwas gesagt. Er hatte mit seinem Fieber ringend auf seinem Schlaflager gelegen, als sein Vater von dem Gespräch mit den Domicias zurückgekehrt war. Die Abwesenheit der streichelnden Hand seiner Mutter hatte ihn aus seinem vernebelten Zustand gerissen, ihn ihr leise Weinen und die strengen Mahnungen des Vaters wahrnehmen lassen. Sie hatte ihn nicht noch einmal in den Arm nehmen dürfen. Sein Vater hatte das getan, weitaus weniger sanft und einfühlsam, hatte ihn aus der Hütte und anschließend auch hinaus aus dem Dorf getragen.

Jaro wusste nicht genau, wie lange er mit ihm gelaufen war, weil die Müdigkeit ihn trotz seiner Angst und Trauer übermannt und einnicken hatte lassen. Sein Körper war zu geschwächt, um in einen erregten Zustand zu geraten, sehnte sich ständig nach Ruhe und Schlaf.

„Jaro!“, sagte sein Vater in diesem strengen Ton, der ihm verriet, dass er kein Gejammer, keinen Widerspruch, keine Gegenwehr duldete. Er wiederholte seinen Namen ein paar Mal, aber erst als seine großen rauen Hände an Jaros Fingern zerrten, nahm er wahr, dass diese sich in sein Hemd gekrallt hatten, nicht loslassen wollten, obwohl Jaro ihnen den Befehl dazu gab. Doch Kertja, der Fischer, war stark und geschickt. Er ging in die Knie und setzte Jaros Füße auf den Boden, löste die Hände seines leise wimmernden Sohnes aus seinen Kleidern und erhob sich.

Jaro griff nicht wieder nach ihm, auch wenn er noch in greifbarer Nähe war. Sein Verstand sagte ihm, dass er sich den Gesetzen ihres Stammes zu fügen hatte, seine Brüder und Schwestern nicht durch seine Krankheit gefährden durfte. Die Geister des Waldes würden ihn aufnehmen. Vielleicht würde er erfrieren, bevor die Dämonen der Nacht kamen, um ihn zu holen. Oder er konnte selbst in den Fluss springen, dessen Rauschen bereits an seine Ohren drang. Die Strömung war zu dieser Jahreszeit so reißend, dass er sicherlich schnell darin ertrinken würde.

Sein Vater hatte damit begonnen, das Stammesgebet aufzusagen, und Jaro gab dem Flehen seiner schwachen Beine nach, ließ sich im kühlen, feuchten Gras nieder und stimmte in das Gebet mit ein. Er summte es immer noch vor sich hin, als Kertja längst gegangen war; hielt sich an den uralten Worten fest, während die Kälte durch die dünnen Kleider, die er trug, in seine Knochen drang, seinen ausgemergelten Körper erzittern ließ. Erst nach einer ganzen Weile erstarb seine Stimme und er sah wieder auf.

Sein Vater war ein großes Risiko eingegangen, indem er ihn derart weit vom Dorf weggebracht hatte, denn die Dunkelheit kroch bereits durch die Äste der Büsche und Bäume um ihn herum. Er hatte ihn nahe an die Grenze der Dämonenwelt gebracht, obwohl das eigentlich verboten war. Warum wusste Jaro nicht, denn den Monandor den Körper eines Diatar zu überlassen, wurde zuhause mit dem Tode bestraft.

Seine Angst wuchs nun doch, weil aus dem dunklen Wald die gruseligsten Geräusche kamen. Das Klappern seiner Zähne machte es schwer, herauszuhören, ob sich nur ein Tier durch das Dickicht bewegte oder etwas anderes, Gefährlicheres und da Jaro im Dunkeln nur Schemen ausmachen konnte, kniff er letztendlich fest die Augen zusammen und presste die Hände auf die Ohren. Ein Husten kitzelte in seiner Brust und schon nach ein paar Sekunden konnte er es nicht mehr zurückhalten. Der Krampf schüttelte seinen ganzen Körper, seine Lunge brannte und rasselte und ihm wurde so schwindelig, dass er zur Seite kippte und erschöpft liegenblieb. Wenn die Dämonen in der Nähe waren, hatten sie ihn mit Sicherheit gehört und würden sich jede Sekunde auf ihn stürzen. Es machte keinen Sinn sich zu wehren oder wegzulaufen. Sie waren viel zu stark und schnell und würden ihn mit ihren Nachtaugen in jedem Versteck ausfindig machen.

Die Geräusche wurden deutlicher. Etwas oder jemand bewegte sich eindeutig durch den Wald. Jaro schluckte schwer und sein Herz donnerte gegen seine Rippen, ließ seinen Atem schneller werden und den Hustenreiz zurückkehren. Sein Verstand befahl ihm, die Augen zu schließen, weil es besser war, das Monster, das ihn töten wollte, nicht auch noch vorher zu sehen. Aber er konnte es nicht, hielt sie stattdessen weit geöffnet, bis ein weiterer Hustenkrampf seinen Körper schüttelte.

Die Welt drehte sich für ein paar Herzschläge und Jaro verzog das Gesicht, presste die Lider zusammen, weil der brennende Schmerz in seiner Brust zu groß wurde. Erst als er wieder abebbte, konnte er die Augen öffnen und … erstarrte. Da waren Füße vor ihm. Kleine. Nicht größer als die seinen. Nackt. Sie mündeten in ein Paar dünner, blasser Beine und … Jaro schluckte schwer, als er den Blick weiter hinaufwandern ließ, in das Gesicht des Dämons. Doch das, was er sah, ließ ihn nicht schreien oder in Angststarre verfallen. Ganz im Gegenteil, seine Furcht wurde geringer, musste dem faszinierten Erstaunen weichen, das sich in ihm ausbreitete.

Vor ihm stand ein Mädchen, kein Monster. Ein Kind nicht viel jünger oder älter als er, gekleidet in abgewetzte Stoffe, Tierpelze und Leder, ähnlich wie die Kleider, die sein eigenes Volk trug. Dennoch sah sie vollkommen anders aus als die Menschen seines Stammes. Ihr Haar glänzte im Mondlicht wie der silberne Schmuck der Domicias, ihre Haut war hell wie die kostbare Milch der Gita-Schafe, die es nur zu besonderen Festtagen gab. Und ihre Augen … ihre Augen strahlten in einem leuchtend hellen Blau, strahlender als jeder Kristall, den er jemals gesehen hatte. Jaro stockte der Atem, als sie ihren Kopf etwas bewegte und das Licht des großen Mondes kurz von ihren Augen reflektiert wurde wie bei einem Raubtier der Nacht. Sie sagte jetzt etwas zu ihm, etwas in einer anderen Sprache, und auch ihre Stimme hatte nichts Furchterregendes an sich, obwohl er sich sicher war, eine Monandor vor sich zu haben. Sie war warm und hell, freundlich und ein wenig sorgenvoll. Genauso wie der Ausdruck in ihren faszinierenden Augen, als sie vor ihm in die Hocke ging und ihn genauer musterte.

Jaro stützte sich auf seinen Händen ab und setzte sich vorsichtig auf, ließ dabei das Mädchen nicht aus den Augen. Nicht aus Angst, sondern weil er nicht anders konnte. Da war dieser innere Zwang in ihm, eine ungesunde Neugierde. Er atmete nur ganz flach und stockend, als er seine Hand nach diesem seltsamen Wesen ausstreckte. Monandor durfte man nicht berühren. Niemals. Sie verhexten einen und das bedeutete den sicheren Tod. Gleichwohl konnte er nicht anders. Der Drang herauszufinden, ob etwas derartig Schönes tatsächlich existierte, war zu groß. Er musste sicher sein, dass sie keine Halluzination war.

Seine Finger trafen auf ihre Haut und für einen kleinen Moment setzten sein Atem und Herzschlag aus. Seidig weich und … warm! Kein kaltes Dämonenblut, keine Stacheln, keine spitzen Zähne, die nach ihm schnappten, keine Krallen, die ihm Haut und Fleisch von den Knochen rissen.

Sie gab ein Glucksen von sich, das wie ein Lachen klang, übermütig und wunderschön. Etwas, das er bisher nur selten in seinem Leben vernommen hatte und ganz tief in ihn drang, in seine Brust, sein Herz. Seine Mundwinkel bewegten sich, ohne sein Zutun. Etwas Befremdliches geschah in seinem Inneren, ließ ihn ein ganz ähnliches Geräusch ausstoßen wie sie zuvor.

„Risa“, sagte sie und wies auf ihre Brust.

Jaros Lippen bewegten sich ein paar Mal erfolglos, bis er endlich ein leises ‚Jaro‘ hervorbrachte.

„Jaro?“, wiederholte sie erstaunt und er nickte.

„Jaro“, sagte sie und wies lächelnd auf die Sterne.

Er runzelte die Stirn. Sein Name bedeutete in der Tat Stern, aber so wie sie ihn aussprach, mit diesem leicht rollenden ‚R‘, hatte er ihn noch nie vernommen. Zudem erstaunte es ihn, dass die Monandor dasselbe Wort dafür verwendeten wie sein Volk.

„Risa“, wiederholte das Mädchen auch seinen Namen und wies auf eine kleine weiße Blüte ganz in der Nähe. „Risalora. Risa.“

Jaros Erstaunen wuchs. Rischalorel nannten seine Stammesmitglieder Blüten dieser Art. Er wollte ihr das sagen, doch leider packte ihn gerade in diesem Augenblick ein weiterer Hustenanfall, der ihn schmerzerfüllt das Gesicht verziehen ließ.

Die Augen des Mädchens bekamen einen mitleidigen Ausdruck und erneut kamen Worte aus seinem Mund, die nicht so fremd klangen, wie er zunächst gedacht hatte. Diese Sprache … sie war der seinigen gar nicht unähnlich und wenn er sich nicht irrte, hatte das Dämonenkind ihn gerade gefragt, ob er fror. Mit einem verwirrten Blinzeln nickte er zaghaft, als es seine Frage noch einmal wiederholte. Risa sprach weiter. Er verstand Worte wie ‚zurück‘ und ‚nach Hause‘ und schüttelte dieses Mal den Kopf.

„Ich kann nicht“, sagte er und schämte sich nicht für das Brechen seiner Stimme und die Tränen, die sofort in seine Augen stiegen.

Der Blick des Mädchens wurde noch mitleidiger und nur wenig später fand er sich in dessen Armen wieder. Sein Körper versteifte sich ganz automatisch und er riss entsetzt die Augen auf, ihm fehlte jedoch die Kraft, sich gegen Risas erstaunlich kräftigen Griff zu wehren. Umarmungen kannte er nur von seiner Mutter.   (…)

Amazon Verkaufslink