Leseprobe aus Aschenblut
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In ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend waren Cedar und Daria oft die knarrenden Treppenstufen hinauf zu den Zimmern der Gäste gelaufen – manchmal auch verbotenerweise – dennoch hatte es sich nie so seltsam beängstigend angefühlt wie in diesem Augenblick. Damals hatte es selbstverständlich keine grausamen Morde in unmittelbarer Umgebung gegeben, die gegenwärtig der Hauptgrund für Cedars schnell schlagendes Herz und ihr großes Unbehagen waren. Gleichwohl brachte noch etwas anderes sie dazu, sich möglichst leise zu bewegen und mit großer Vorsicht in den Flur im oberen Geschoss zu treten: Das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein. Aus diesem Grund durfte sie auf keinen Fall entdeckt werden.
Es konnte kein Zufall sein, dass der weibliche Dauergast des Wirtshauses fast genauso lange vermisst wurde wie das adlige Mordopfer aus Lenda. Und wenn sie recht hatte, war die arme Frau wahrscheinlich ebenfalls längst tot und in der Umgebung von Ivendal ging eine unberechenbare, mörderische Bestie um, vor der niemand sicher war.
Das Zimmer von Ms Ealing befand sich am Ende des Flurs auf der rechten Seite. Da es hier keine Fenster gab, durch die Tageslicht ins Innere dringen konnte, spendeten hübsche Öllampen ihren warmen Schein. Die Lampe am Ende des Ganges brannte jedoch nur noch schwach, sodass der Bereich vor dem Zimmer düster, ja beinahe bedrohlich wirkte. Als würde eine dunkle Macht Cedar davon abhalten wollen, dem Mörder auf die Spur zu kommen.
Sie straffte die Schultern und hielt erst wieder inne, als sie direkt vor der Tür stand. Daria hatte zwar kurz nach Cedars Ankunft gesagt, dass ihre Eltern gerade außer Haus waren und das Zimmermädchen Misha die Wäsche aus der Wäscherei abholte, dennoch klopfte sie vorsichtig an. Jeder irrte sich das ein ums andere Mal und noch konnte sie sich gut herausreden, was ihr Erscheinen hier vor der Tür betraf.
Erwartungsgemäß war nichts aus dem Innern des Raumes zu hören. Mir flinken Fingern öffnete sie die Tür, schlüpfte ins Zimmer, zog diese jedoch nicht hinter sich zu. Auf diese Weise vernahm sie es eher, wenn jemand die Treppe heraufkam und sich ihr näherte.
Der Raum, in dem sie sich befand, war nichts Besonderes. Zur Einrichtung gehörten ein Bett, neben dem ein Nachttopf stand, eine Kommode, über der ein Spiegel hing, ein kleiner Holztisch mit einer Öllampe und zwei Stühlen sowie ein großer Kleiderschrank. Aufgrund des Zimmerservices war das Bett gemacht und alles sah sehr ordentlich aus. Auf der Kommode befand sich eine ungenutzte Waschschale. Daneben lagen Lappen und Handtuch. Auch die Seife auf dem muschelförmigen Tellerchen neben dem Handtuch war nicht benutzt worden.
Am Tisch vor dem Fenster stand ein großer, dunkler Holzkoffer, der Cedar als erstes anzog. Seine Schnallen waren nicht verschlossen, doch als sie den sperrigen Deckel mit einem Quietschen der Eisenscharniere hob, wurde sie enttäuscht. Nichts als ein weiter Kapuzenmantel, der keine Taschen besaß, lag darin. Eine Stickerei prangte auf der Brust: Zwei ineinander geschlungene Buchstaben. A und R.
Cedar ließ den schweren Stoff zurück auf den Boden des Koffers sinken, schloss den Deckel und sah hinüber zum Schrank. Dieser stand einen Spalt weit offen und roter Stoff ragte daraus hervor. Es wunderte Cedar nicht, beim Öffnen der Tür festzustellen, dass der Schrank mit Kleidern aller Art gefüllt war. Wunderschöne Kleider aus teuren Stoffen. Stoffe, die man sich gewöhnlich nur unter den blaublütigen oder anderweitig zu Reichtum gekommenen Mitgliedern der Gesellschaft leisten konnte.
Cedars Finger glitten andächtig über den Ärmel eines dunkelblauen mit Spitze und Perlen verzierten Schmuckstücks. Kühl und glatt fühlte sich dieser an und so zart, dass man fast Angst hatte, er könnte bei einer gröberen Behandlung unter den Fingern zerfallen. Es fiel ihr schwer, sich von dem Anblick loszureißen, stattdessen in dieser Pracht nach etwas zu suchen, das ihr seltsam oder gar verdächtig vorkam.
Zu ihrem Bedauern war an den Kleidern nichts zu entdecken und auch die Schuhe, die am Boden des Schrankes zu finden waren, wiesen keine ungewöhnlichen Merkmale auf.
Cedar schloss ihn wieder. Zumindest versuchte sie es. Die Tür hing jedoch etwas schief in den Angeln, sodass dies gar nicht richtig möglich war. Sie beließ sie einfach so und wandte sich der Kommode zu. Die oberste Schublade war leider etwas schwergängig und gab beim Öffnen ein unangenehmes, viel zu lautes Geräusch von sich.
Cedar hielt einen Moment inne und lauschte. Die hörbare Stille beruhigte ihre Nerven genügend, um weiterzumachen. Zarte Seidenunterwäsche mit Bändern zum Schnüren und sogar Seidenstrümpfe präsentierten sich ihren Augen, doch als sie die Wäsche etwas herumschob, entdeckte sie noch etwas anderes am Boden der Lade. Eine Faltkarte aus dunkelroter Pappe, auf deren Front dieselben verwobenen Buchstaben zu finden waren wie auf dem Umhang im Koffer. A und R.
Stirnrunzelnd öffnete Cedar die Karte. In verschnörkelter Schrift fand sie dort eine Nachricht vor: Zum vollen Mond empfängt die schönste aller Göttinnen all die ihr Gleichgesinnten in ihrem Hort der Sünde.
Ein unangenehmer Schauer lief Cedar über den Rücken. Rauk war kurz nach der letzten Vollmondnacht verschwunden, das hatte sie an dem Datum, das Daria ihr gezeigt hatte, erkannt. Wenn das eine Einladung zu demselben Fest war, das der Grafensohn besucht hatte, hingen das Verschwinden der Frau und seine Ermordungen vermutlich doch zusammen. Sie hatte eindeutig eine Spur gefunden.
Rasch ließ sie die Karte in ihrer Manteltasche verschwinden, schob die Lade vorsichtig und mit weniger Geräuschen als zuvor zu und griff nach dem Knopf der nächsten. Mitten in der Bewegung hielt sie inne.
War da gerade vom Flur her das Knarren einer Stufe zu hören gewesen? … Ja, da war es noch einmal. Jemand kam die Treppe hinauf.
Was jetzt? Abwarten und hoffen, dass die Person in einem der anderen Zimmer verschwand oder gleich verstecken? Letzteres war zwar nicht unbedingt notwendig, aber später würde sie keine Zeit mehr dafür haben.
Sie eilte zum Schrank zurück, schob die Kleider vorsichtig zur Seite und kletterte in diesen hinein. Glücklicherweise war sie eine Frau von durchschnittlicher Größe, sodass sie tatsächlich in ihr Behelfsversteck hineinpasste, ohne allzu laute Geräusche zu machen. Die Tür quietsche leise, als sie diese von innen zuzog. Vollständig schließen ließ sie sich immer noch nicht, aber das war kein Nachteil, denn durch den Spalt hatte sie einen Teil des Zimmers samt Zimmertür im Blick.
Von draußen waren jetzt eindeutig Schritte zu vernehmen und erneut das Knarren von Holz, dieses Mal dem der Bodendielen. Die Person kam ohne jeden Zweifel näher, schien kein Zimmer im vorderen Bereich gemietet zu haben. Komisch. Hatte bei der Eintragung des einzigen anderen Gastes im Buch nicht eine Zwei gestanden? Das Zimmer befand sich doch ganz vorn.
Cedars Puls beschleunigte sich und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Die Schritte waren nun sehr nahe und verklangen direkt vor der noch leicht geöffneten Tür von Ms Ealings Zimmer. Ganz langsam wurde der Spalt größer und gegen das warme Licht der Öllampen im Flur zeichnete sich eine dunkle Gestalt ab, welche die Tür mit den Fingerspitzen behutsam weiter aufdrückte.
Cedar atmete nur noch ganz flach und so leise wie möglich. Ihr ganzer Körper hatte sich in dem Bemühen, still stehenzubleiben, verkrampft, denn die gebückte Haltung war kaum natürlich und ließ bereits jetzt ihre Muskeln schmerzen. Ihr innerlicher Wunsch, dass es sich bei der Person um Darias Vater handelte, erfüllte sich bedauerlicherweise nicht.
Es war ein junger, ihr vollkommen unbekannter Mann, der nun in den Raum trat und sich langsam umsah. Mit seinem langen, taillierten Mantel, dunkelblauer Weste, eleganten langen Hosen und modischen schwarzen Halbschuhen wirkte er beinahe wie jemand aus der adligen Gesellschaft. Doch der Staub auf dem Mantelsaum, die Degenspitze, die darunter hervorlugte, und der Schmutz auf den Schuhen verrieten Cedar, dass dies vermutlich ein Trugschluss war. Die Adligen, die sie kannte, ließen sich nur selten zu gefährlichen oder gar schmutzverursachenden Aktivitäten hinreißen, was ihn somit eher in die gutbürgerliche Schicht ‚absinken‘ ließ.
Dennoch besaß der Mann durchaus Gesichtszüge, die man als aristokratisch bezeichnen konnte. Fein, schmal, blass, glattrasiert, mit einem Grübchen im Kinn und einem leicht hochmütigen Zug um die hübsch geschwungenen Lippen herum. Das dunkelbraune Haar zumindest am Hinterkopf und an den Seiten relativ kurz, die Koteletten der Mode entsprechend etwas länger. In einer anderen Situation hätte Cedar ihn womöglich sogar als attraktiv wahrgenommen, in dieser jedoch, mit den furchtbaren Geschehnissen der letzten Tage beinahe bildlich vor Augen, wirkte er bedrohlich und düster.
Cedars Herz hämmerte hart in ihrer Brust, während der Fremde nun das Zimmer durchquerte und damit aus ihrem sehr begrenzten Sichtfeld verschwand. Ein Quietschen verriet ihr, dass auch er den Koffer öffnete. Stoff raschelte und der Deckel wurde kurz darauf wieder mit einem Rumsen geschlossen. Schritte, knarrende Bodendielen. Weiteres Stoffrascheln. Wahrscheinlich hob der Fremde die Bettdecke oder gar die Matratze an. Er suchte etwas. War er etwa der Geliebte von Ms Ealing oder sogar … ihr Mörder?
Cedars Kehle hatte sich vollkommen zugeschnürt und ihr Bemühen, trotz ihrer Aufregung nur sehr verhalten zu atmen, sorgte mittlerweile für einen wachsenden Schwindel. Zudem zitterten ihr Beine und sie musste sich an den Seitenwänden des Schrankes abstützen, um ihre Position beibehalten zu können. Wenn der gruselige Fremde nicht bald verschwand, würde sie noch in die Knie gehen und dabei ganz gewiss ein verräterisches Geräusch von sich geben.
Er bewegte sich jetzt wieder hörbar durch den Raum und im nächsten Moment füllte seine Gestalt erneut ihr Blickfeld aus. Soeben steckte er sich irgendetwas in die Brusttasche seiner Weste. Verdammt! Warum war sie nicht auf die Idee gekommen, zuerst beim Bett nachzusehen? Ein frustriertes Schnaufen entwischte ihr und sie hielt entsetzt inne, als sich der Kopf des Mannes ruckartig in ihre Richtung drehte. Tiefbraune Augen unter sich zusammenziehenden breiten Brauen wanderten prüfend über den Türspalt des Schrankes.
‚Bitte nicht. Bitte nicht’, flehte Cedar innerlich, doch es war umsonst. Der Fremde drehte sich vollends zu ihr herum, streckte seine Hand aus und öffnete die Tür.
Cedar bewegte sich nicht, obwohl das Licht des Tages auch vor ihr keinen Halt machte. In der verzweifelten Hoffnung, in dem Kleiderwust eventuell nicht wahrgenommen zu werden, verharrte sie wie eine leblose Puppe, bewegte noch nicht einmal die Lider.
Es half nicht. Die Augen des Fremden blieben an ihr haften. Er zuckte nun sogar kurz zurück, seine Hand legte sich unter dem Mantel auf den Griff seines Degens. Überraschung und leichte Befremdung ließen sich aus seinem Gesichtsausdruck herauslesen. Keine Aggression oder Mordlust. Und noch zog er die Waffe nicht, ließ die Hand sogar wieder sinken.
Das genügte, um Cedar Mut fassen zu lassen und ihren Verstand aus der Schockstarre zu rütteln.
«Was …», begann der Mann gerade, als sie auch schon ein paar Kleider beherzt zur Seite schob und mit einem freundlichen «Alles erledigt!» aus dem Schrank an ihm vorbei schlüpfte.
Er war gut einen Kopf größer als sie, sah nun verwirrt auf sie hinab. Ein zarter Duft von Lavendel drang an ihre Nase. «Bitte?», gab er perplex von sich.
«Die Wäsche», erklärte sie, bewegte sich dabei rückwärts auf die offenstehende Zimmertür zu. «Ich habe alles ordentlich aufgehängt oder anderweitig verstaut. Ms Ealing wird zufrieden sein. Kommt sie heute zurück?»
Eigentlich wäre es besser gewesen, sofort zu verschwinden, aber ihr Drang nach Antworten und die anhaltende Verwirrung des Fremden ließen sie unvernünftig werden.
«Wer sind Sie?», entschied ihr Gegenüber sich bedauerlicherweise dazu, nun ebenfalls Fragen zu stellen. Seine Augen verengten sich, während er sie eingehend musterte. «Sicherlich kein neues Zimmermädchen, denn die sind anders gekleidet. Und ich glaube sogar, ich habe sie schon mal irgendwo gesehen.»
Cedar hätte nie gedacht, dass sie es einmal bereuen würde, ohne sie als Dienstpersonal ausweisende Schürze herumzulaufen. Ihr Reisemantel war zwar weder vornehm noch neuwertig, aber dann doch zu deutlich als solcher zu erkennen. Insbesondere, wenn man ihn schon einmal gesehen hatte, wie zum Beispiel auf dem Bahnhof. Mittlerweile konnte auch Cedar sich an die Begegnung erinnern, entschloss sich jedoch, weiter zu lügen.
«Ich bin eine von Ms Ealings Zofen und habe ihr ein paar Kleider von zuhause gebracht, die sie hier dringend braucht», erklärte sie eilends.
«Und die konnten Sie im Schrank nur unterbringen, indem Sie in diesen hineinklettern?» Die Mundwinkel des Mannes zuckten nach oben, brachten allerdings noch kein richtiges Schmunzeln zustande, obwohl in seinen Augen erste Anzeichen von Belustigung zu finden waren.
«Es … war notwendig, weil ein paar der Kleider sich verhakt hatten», versuchte sie sich weiter herauszureden.
«Womit?» Mittlerweile hatte sich sein Schmunzeln vervollständigt. «Ist dieser Schrank von innen etwa noch … naturbelassen?»
«Naturbelassen?», wiederholte sie verständnislos.
«Äste und Zweige», half er ihr amüsiert. «Blätter wären wohl im vergangenen Herbst abgefallen und darin verfängt sich Stoff auch eher selten.»
«Sehr lustig», kommentierte sie freudlos. «Ich rede natürlich von Haken und Ösen zum Schließen, die gern ungefragt mit Stickereien angrenzender Kleider ärgerliche Techtelmechtel haben. Nun denn, wie sehr mir dieser witzige Austausch auch gefällt, ich müsste mich dann doch langsam verabschieden. Ich habe noch viel zu tun.»
«Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie sind», versuchte er sie aufzuhalten, während sie sich bereits rückwärts der Tür näherte. Zu ihrem Leidwesen folgte er ihr.
«Doch, ich sagte, dass ich eine Zofe von Ms Ealing sei.»
«Und ich glaube Ihnen kein Wort.»
«Daran trage ich ja nun wirklich keine Schuld.»
Er verzog abwägend die Lippen. «Sie hätten sich etwas mehr anstrengen können. Ein paar Details hinzufügen, die ich auf die Schnelle nicht nachprüfen kann, Ihren Charme einsetzen, um mich von der Tatsache abzulenken, dass Sie hier eigentlich nichts zu suchen haben …»
«Oh, ich fand mich sehr charmant.» Sie warf einen knappen Blick über die Schulter. Nur noch wenige Schritte und sie würde auf dem Flur sein. Bemüht keck hob sie das Kinn. «Davon abgesehen, haben auch Sie sich noch nicht vorgestellt, was einer fremden Dame gegenüber wirklich unhöflich ist.»
«Ich bin gern geheimnisvoll», erwiderte er mit einem Lächeln, das strahlender nicht sein konnte und sogar kurz Cedars Atem stocken ließ. «Und die meisten Damen, denen ich begegne, finden das sehr anziehend.»
«Womöglich würde es mir genauso gehen, wenn ich mir zumindest erklären könnte, was Sie in Ms Ealings Zimmer gesucht haben. Denn eigentlich ist auch Ihr Auftauchen hier nur schwer zu erklären, nicht wahr?»
Er biss sich mit weiterhin amüsiert funkelnden Augen auf die Unterlippe, als hätte sie ihn bei einem minder schweren Vergehen erwischt, blieb ihr jedoch eine Antwort schuldig.
«Es scheint so, als würden wir hier nicht weiterkommen», äußerte sie deswegen, «da verstehen Sie doch sicherlich meinen Drang, dieses erquickende, wenn auch völlig sinnlose Gespräch zu beenden. Einen schönen Tag noch, der Herr.»
Mit diesen Worten war sie endlich aus dem Zimmer heraus und hastete den Flur zurück auf die Treppe zu. Dem Fremden schien ihre Flucht gleichwohl nicht zu gefallen, denn sie konnte prompt seine Schritte hinter sich vernehmen.
«Sie sind eine Freundin der Familie Wilkers, nicht wahr?», fragte er ihren Rücken. «Andernfalls hätte man Sie nicht nach oben gehen lassen, schließlich sind Sie kein Gast.»
Cedar reagierte nicht auf ihn, lief stumm die Treppe hinab und bat die Mächte des Schicksals darum, dass Daria bereits wieder an der Rezeption stand. Das Interesse des Fremden an ihrer Person bereitete ihr langsam Unbehagen. Vielleicht war er doch gefährlich. Vielleicht war er doch der Geisteskranke, der in Ivendal nach Belieben Menschen abschlachtete.
«Die Frage ist nur, warum Sie sich so für Ms Ealing interessieren?», fuhr der nun Verdächtige derweil ungerührt fort. «Oder geht es gar nicht um sie?»
Endlich erreichte Cedar das Erdgeschoss und tatsächlich, hinter dem Tresen stand ihre liebe, gute Freundin Daria. Einen schöneren Anblick hätte es in diesem Moment kaum geben können.
Daria hingegen schien anders zu empfinden. Sie sah besorgt aus, ja, mit dem nächsten Wimpernschlag sogar fast erschrocken. Cedar brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass ihre Freundin an ihr vorbei schaute und damit gar nicht auf sie reagierte, sondern auf den Mann, der Cedar weiterhin folgte.
«Mr Trevalyen!», entfuhr es Daria nun auch noch atemlos. «Ich wusste gar nicht, dass Sie angereist sind.»
Cedar hielt inne, sodass auch ihr Verfolger gezwungen war stehenzubleiben, um nicht in sie hineinzulaufen. Sie blickte irritiert von einem zum anderen.
«Diese Reise war auch nicht geplant und ich wollte ganz bestimmt niemanden mit meinem Auftauchen erschrecken», beteuerte der Angesprochene mit einem weiteren strahlenden Lächeln, das seine Wirkung nicht verfehlte.
Daria erwiderte es reflexartig und ihre Wangen verdunkelten sich. «Das haben Sie doch gar nicht», versicherte sie ihm mit einer abwinkenden Geste. «Ich war lediglich erstaunt.»
«Moment!», machte Cedar die beiden auf ihre Anwesenheit aufmerksam. «Daria, du kennst diesen Gentleman?»
«Ja, er war schon einige Male hier, wenn …» Der mahnende Blick des Fremden brachte Daria zum Verstummen.
Cedar wandte sich ruckartig zu ihm um. «Das habe ich gesehen!», sagte sie verärgert.
Seine Brauen bewegten sich auf die dunklen Strähnen längeren Haares zu, die ihm in die Stirn fielen. «Was genau?», fragte er mit unschuldigem Augenaufschlag.
«Die Drohung in Ihren Augen!»
«Ich würde einer Frau niemals drohen. Das gehört sich nicht.»
«Es gehört sich auch nicht, eine Mätresse zu haben, dennoch konnten Sie dieser Versuchung nicht widerstehen.»
«Cedar, das ist nicht …», begann Daria, verstummte aber erneut, als Mr Trevalyen Einhalt gebietend die Hand hob.
«Sie haben Ihr Urteil recht schnell bei der Hand», sagte er jetzt. «Wenn Sie bei Ihren Nachforschungen ebenso vorgehen, wird sich Ivendal vor neuen Gerüchten bald kaum mehr retten können. Denken Sie das hilft den Opfern dieser Tragödie?»
«Nachforschungen?» Cedar gab sich die größte Mühe, verwirrt auszusehen, und das war gar nicht so einfach, bedachte man, wie wütend die Bemerkung ihres Gegenübers sie machte. «Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.»
Mr Trevalyen bedachte sie mit einem schiefen Lächeln, das kaum über die leichte Genervtheit in seiner Mimik hinwegtäuschen konnte. «Ach, kommen Sie, die Geschichte mit der Zofe haben wir doch beide längst hinter uns gelassen», behauptete er. «Sie sind hier, weil sie in irgendeiner Verbindung mit den beiden Toten stehen, die in der Nähe des Dorfes gefunden wurden, und weil sie von Ms Ealings Abwesenheit erfahren haben, wollten sie herausfinden, ob es da einen Zusammenhang mit den Morden gibt.»
«Und wenn es so wäre?», gab Cedar leichthin zurück. Von einem arroganten Besserwisser wie ihm würde sie sich bestimmt nicht einschüchtern lassen. Wer glaubte er eigentlich, wer er war? Stand vor ihr in dieser lässigen Haltung, das schwarze Hemd unter der Weste nicht einmal ordentlich zugeknöpft. Vielleicht war es an der Zeit, ihn mit einem freundlichen Lächeln darauf hinzuweisen, dass es auch für Männer unanständig war, so viel … Dekolletee zu zeigen.
«Dann würde ich Ihnen sagen, dass es keine gute Idee ist, seine Nase in Dinge zu stecken, die einen nichts angehen und zudem mit einer gewissen Gefahr für Leib und Seele einhergehen», teilte er ihr sachlich mit. «Und nein, auch das ist keine Drohung, sondern nur ein Fakt.»
«So, so», erwiderte Cedar.
«So, so?», wiederholte ihr Gegenüber. «Das ist alles?»
«Sie glauben mir doch ohnehin kein Wort.»
«Das ist nicht wahr. Wenn Sie mir Ihren Namen nennen, bemühe ich mich darum, Ihnen zu glauben, dass Sie tatsächlich so heißen.» Sein breites Grinsen ließ zwei Reihen strahlend weißer Zähne aufblitzen.
«Emily Miller.»
«Miller? Ernsthaft? Etwas Kreativeres ist Ihnen nicht eingefallen?»
Sie hob nachdrücklich die Brauen und er gab ein leises Lachen von sich.
«Okay, Ms … Miller, würden Sie mir nun verraten, warum Sie sich so für Ms Ealing interessieren?»
«Wenn Sie mir verraten, in welchem Verhältnis Sie zu der Dame stehen …» Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn erwartungsvoll an.
Daria blickte unglücklich abwechselnd von einem zum anderen.
Ein weiteres unterdrücktes Lachen kam über seine Lippen, doch am Ende schüttelte er den Kopf. «So neugierig bin ich dann doch nicht.» Seine Augen wanderten flüchtig über ihren Körper und wieder hinauf zu ihrem Gesicht. «Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Ms Miller, aber jetzt muss ich mich leider verabschieden, um wichtigeren Dingen nachzugehen.»
«Wichtigeren Dingen als mir?», wiederholte sie mit hochgezogenen Brauen und einem leichten Schmunzeln. «Wie unhöflich.»
«Keinesfalls», widersprach er ihr mit demütig gesenktem Haupt. «Es geht um Leben und Tod.» Ein kurzes Zwinkern und schon war er auf dem Weg zum Ausgang und zu diesem hinaus.
Cedar sah der Tür dabei zu, wie sie, erneut gegen die Klingel stoßend, zurück ins Schloss fiel, nicht fähig, ihre Gedanken so schnell zu sortieren, wie es eigentlich nötig war.
«Also … das war …», vernahm sie Darias Stimme hinter sich und wandte sich zu ihr um. Ihre Freundin schien mit der richtigen Wortwahl zu ringen. «Mehr als … intensiv.»
Cedar runzelte irritiert die Stirn. «Wie meinst du das?»
«Dieses Knistern zwischen euch. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn im nächsten Moment irgendetwas in eurer Nähe in Brand geraten wäre.»
«Was?» Cedar gab ein halb verärgertes, halb belustigtes Glucksen von sich. «So ein Unsinn. Wenn da etwas war, dann lediglich Ärger. Ich fühle mich doch nicht von jemandem angezogen, der eine Mätresse hat. Du solltest mich besser kennen, Daria.»
«Er ist nicht Ms Ealings Liebhaber», ließ ihre Freundin sie wissen. «Er arbeitet nur für diesen, begleitet ihn bei seinen Reisen und erledigt den ein oder anderen Auftrag für ihn. Ich glaube, er ist dessen Berater oder etwas Ähnliches und eigentlich ist er immer sehr nett und charmant. Deswegen …»
«Das ist doch nur Fassade», brummte Cedar verärgert. Sie kannte diese Art Männer nur allzu gut, vermeintliche Gentlemen, die ihren Charme nur so lange spielen ließen, bis sie bekamen, wonach es ihnen dürstete.
«Und wenn ich ehrlich bin, war sein ganzes Verhalten mehr als verdächtig», fuhr sie fort.
«Oh, Cedar, bitte nicht!», jammerte Daria, doch sie ließ sich nicht stoppen.
«Er hat sein Auftauchen hier nicht angekündigt, sich wahrscheinlich durch die Hintertür ins Gasthaus geschlichen – andernfalls hätten wir die Glocke gehört – und Ms Ealings Zimmer durchsucht. Findest du das etwa nicht verdächtig?»
«Womöglich hat der P- … sein Herr etwas in Ms Ealings Zimmer vergessen und Mr Trevalyen hatte den Auftrag, es zu holen», nahm Daria doch tatsächlich den Mann in Schutz.
«Oder er selbst hat dort etwas vergessen, das seine Schuld beweist», konterte Cedar. Immerhin hatte der Mann etwas, das er im Zimmer gefunden hatte, eingesteckt.
«Schuld?» In Darias Gesicht zeigte sich Entsetzen. «Du willst ihm doch nicht etwa die Morde anlasten!»
«Ich will niemandem etwas anlasten», korrigierte Cedar ihre Freundin, «ich gehe nur möglichen Spuren nach und versuche, mehr über die Menschen herauszufinden, die sich aus meiner Sicht verdächtig verhalten.»
«Du bist doch aber keine Polizistin. Das alles … das sollte dich nicht derart interessieren. Schon gar nicht nachdem …» Daria brach ab, senkte schuldbewusst den Blick.
«Nachdem was, Daria?», hakte Cedar nach. Ihre Gedärme hatten sich bereits zusammengezogen und gleichzeitig spürte sie den ersten Funken von Zorn tief in ihrem Herzen aufglühen. «Sprich es ruhig aus.»
Ihre Freundin schüttelte den Kopf, wagte es weiterhin nicht, sie anzusehen.
«Gut, dann mache ich es für dich», beschloss Cedar. «Nachdem ich verzweifelt versucht habe, zu beweisen, dass die Countess meinen Vater umgebracht hat, und kläglich gescheitert bin, mich vor aller Welt lächerlich gemacht habe.»
Daria sah nun doch auf. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. «Ich habe dir damals geglaubt, Cedar, und ich tue es heute noch. Aber es war nicht gut, dass du versucht hast, selbst die Beweise zu finden, dass du Dinge getan hast, die gewöhnlich nur Männer tun dürfen, Männer, die für diese Arbeit ausgebildet wurden. Du hast sie alle furchtbar verärgert und am Ende nur dir selbst geschadet, dein eigenes Leben fast zerstört.»
«Das brauchst du mir nicht zu sagen», knurrte Cedar bedrohlich. «Ich wache jeden Morgen mit diesem Bewusstsein auf, aber auch mit der Einsicht, dass es mir jetzt besser geht als zuvor, dass all die schlimmen Dinge, die passiert sind, geschehen mussten, damit ich mich aus … dieser Hölle hier befreie – und nein, ich schließe dich da nicht ein. Du bist einer der wenigen Menschen, die ich immer noch schätze und liebe. Es ist nur so …»
Sie atmete tief ein und wieder aus.
«Ich war damals naiv und unerfahren, dachte, dass jeder hier in Ivendal ein Interesse daran habe, herauszufinden, was wirklich mit meinem Vater passiert ist. Ich dachte, die meisten würden mich unterstützen, mich ernstnehmen, weil die Umstände seines Todes so seltsam waren, dass niemand das übersehen könne. Aber die Menschen hier sind genauso wie überall auf der Welt. Sie unterwerfen sich nur allzu gern den Mächtigen und Reichen und kennen keine Gnade mit denen, die andere Wege gehen wollen.»
Daria gab ein unterdrücktes Schluchzen von sich, machte einen Schritt auf sie zu und schloss sie fest in die Arme. «Ich weiß … und es tut mir immer noch so unendlich leid», wisperte sie ihr erstickt ins Ohr.
«Braucht es nicht», erwiderte Cedar mit fester Stimme, obwohl die Erinnerungen aus jener schrecklichen Zeit an ihren Nerven zehrten. Sie schob Daria zurück, brauchte den Abstand, um Haltung zu bewahren. «Ich habe meine Lektion gelernt und werde dieses Mal sehr vorsichtig sein, lügen und betrügen wie alle anderen es auch tun.»
«Kannst du es nicht einfach lassen?», bat Daria sie mit dünner Stimme.
Cedar konnte ihr nicht weiter böse sein, erkannte sie doch die große Sorge, die hinter dieser Bitte stand.
«Nein», gab sie mit einem milden Lächeln zurück. «Als ich herkam, tat ich das nur, um Gewissheit zu haben, und mit der Hoffnung, dass Aron keiner der Toten ist. Ich dachte, selbst wenn er ermordet wurde, würde es mir reichen, das zu wissen, und ich könnte dann wieder nach Hause fahren, aber …», sie schüttelte den Kopf, «… das kann ich nicht. Ich habe vorhin Sal vor der Polizeiwache getroffen und er verriet mir, dass sie angewiesen seien, hauptsächlich im Mord an dem Grafensohn zu ermitteln. Sollten sie diesen Fall für abgeschlossen halten, wird nichts weiter passieren und das kann ich nicht zulassen, Daria. Ich schulde es Aron und auch mir, herauszufinden, wer ihn getötet hat, und ich weiß, dass ich das kann, besser als gewöhnliche Polizisten. Dieses Mal werde ich nicht versagen. Und genau aus diesem Grund, muss ich auch noch mehr über diesen Trevalyen herausfinden.»
«Cedar, du weißt nicht, mit wem …» Ihre Freundin brach erneut ab.
«… ich mich anlege? Nein, aber du wirst es mir nicht sagen, oder?»
Daria schluckte schwer, bevor sie den Kopf schüttelte.
«Siehst du und deswegen muss ich selbst versuchen, an Informationen zu kommen. Kannst du mir trotzdem einen Gefallen tun? Meine Reisetasche –»
«Ja, ich bringe sie in eines der Zimmer», kam Daria ihr sofort entgegen. «Ich bin mir sicher, dass Vater nichts dagegen hat, wenn du einen Raum belegst. So schnell werden keine neuen Gäste kommen und er ist dir noch etwas schuldig.»
Cedar strahlte sie an und drückte sie sogar kurz an sich. «Ich werde sicherlich spätestens gegen Abend zurück sein», versprach sie ihrer Freundin.
Daria blinzelte irritiert. «Wo willst du denn jetzt noch hin?»
«In den Wald.»
Daria keuchte entsetzt. «Bitte sag nicht, dass du vorhast, den Fundort der Leichen zu besichtigen.»
«Das kann ich nicht», äußerte Cedar mit leichtem Bedauern. «Du weißt doch, dass ich dich niemals anlügen würde.»
….
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