Leseproben

Leseprobe zu ‚Callboy to Go‘

Angsttherapie

Was? Wir nehmen nicht wieder diesen total gemütlichen Linienbus?“ Mias Gesicht verzog sich in gespielter Enttäuschung, als Chris vorschlug, einen Wagen zu mieten.

Wieso sie das nicht schon früher getan hatten, war unklar, doch sie hatte keine Lust, das in Erfahrung zu bringen. Sie hatte fürs Spaßhaben bezahlt, verdammtnochmal, nicht dafür, sich ständig um alles Gedanken machen zu müssen. Und die Fahrt zu einem ‚ganz entzückenden romantischen Örtchen‘ per Auto fortzusetzen, klang in jedem Fall bequemer als die vorherige Variante.

Mittlerweile war es kurz nach sieben und einige der Geschäfte schienen bereits frühzeitig zu schließen. In der ersten und vermutlich einzigen Autovermietung dieses Dorfes (gut, demografisch gesehen war es eine Mittelstadt, aber Großstädterinnen wie sie waren darin oft überheblich) war man gerade dabei, das Werbeschild in den Laden zu hieven. Chris bot freundlich lächelnd seine Hilfe an und das schien den Angestellten gnädig genug zu stimmen, seinen Feierabend noch ein bisschen hinauszuzögern. Ihr Begleiter wechselte ein paar Worte mit ihm und signalisierte ihr dann, dass sie trotz des Mangels an sichtbaren Autos Glück hatten.

Zweifellos ging er davon aus, dass nur er der Landessprache mächtig war. Konnte ja nicht jeder so angeben. Mia nickte ihm dennoch lächelnd zu. Sie lächelte auch, als sie den Laden Richtung Hinterhof verließen. Und immer noch, als sie auf das einzige … Gefährt dort zusteuerten. Irgendwo dahinter gab es bestimmt noch einen Durchgang zu einer großen Garage, denn das, was dort vor ihnen stand, konnte nicht das sein, was Chris gerade gemietet hatte.

Drei erfolglose Versuche, die Seitentür zu öffnen, später, wandte sich Chris ihr zu und sah sie prüfend an.

„Mia? Hast du … einen Krampf oder so?“

Ihr mittlerweile eingemeißeltes Lächeln musste idiotisch bis gruselig wirken, doch sie konnte es nicht abstellen. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“

Sie wiederholte diese Frage noch ein paar Mal: als sie durch die Fahrertür auf den Beifahrersitz kletterte, der Motor erst beim zweiten Versuch ansprang und der Keilriemen Laute von sich gab, die das dreigestrichene C bei Weitem übertrafen. Sie bestand darauf, sich nach einer anderen Vermietung umzusehen, doch Chris gab zu bedenken, dass es dort ähnlich schwierig werden würde, um diese Uhrzeit noch einen Wagen zu bekommen, und sie somit noch mehr Zeit verlieren würden. Also ließ sich Mia schließlich breitschlagen. Hauptsächlich aufgrund dieses unwiderstehlichen Lächelns, der durchdringenden grünen … oder blauen Augen – was für eine Farbe war das verflucht noch mal?! – und der Erinnerung an den sanften Druck seiner Lippen auf den ihren. Es war einfach nur erbärmlich.

Sie ließen La Orotava trotz der eingeschränkten PS-Zahl ihrer Blechschüssel relativ schnell hinter sich und befanden sich bald schon auf den Serpentinen, die hinauf ins Gebirge führten. Leider. Denn wenn Mia eines nicht ausstehen konnte, dann war das Höhe. Chris sah sie während der Fahrt immer wieder von der Seite an, als beschäftigte ihn etwas, das mit ihr zu tun hatte. Doch er brachte kein Wort heraus. Also erwiderte sie seinen Blick mit einem verkrampften Lächeln.

„Langsam musst du aber auch Muskelkater in den Mundwinkeln haben, oder?“ Er lachte. „Versteh mich nicht falsch, du siehst total süß aus, aber –“

„Süß? Toll“, erwiderte sie abgehackt und klammerte sich gleich darauf noch fester an den Haltegriff an der Oberseite der Tür, wohl etwas zu doll, denn kurz darauf hatte sie ihn der Hand. Das durfte doch alles nicht wahr sein!

„So schlimm?“, fragte er und legte ihr mitfühlend eine Hand auf das Knie. Es war wohl auch für ihn nicht zu übersehen, was ihr solche Angst machte.

Mia griff kurz nach seiner Hand und drückte sie, weil es ja nun keinen Haltegriff mehr zum Festhalten gab, dann ließ sie sie schnell wieder los.

„Entschuldigung, ich bin ganz schwitzig …“

Super, das wurde ja immer romantischer. Vermutlich kamen sie kurz vor dem Ziel von der Straße ab und stürzten den Abhang hinab. Ungeöffnet zurück quasi; es war ein Jammer.

Mia atmete bei jeder Kurve auf, nach der der Abhang nicht mehr an ihrer Seite war. Es war unwichtig, wie unlogisch das war, es beruhigte sie wenigstens kurzzeitig und bewahrte sie davor, komplett durchzudrehen. In einem Bus oder großen Taxi hier entlangzufahren war eine Sache, aber nicht in dieser Klapperkiste, die jeden Moment auseinanderzufallen drohte.

Als sie Rambla de Castro passierten, schlug ihr Begleiter doch ernsthaft vor, kurz anzuhalten, damit sie Luft schnappen und den Ausblick genießen konnte, was sie mit einem entsetzt quiekenden „Nein!!“ ablehnte, weil sie zu große Angst hatte, dass der Wagen danach nicht wieder anspringen würde. Auf einer Aussichtsplattform im Gebirge zu stranden war für sie die Mutter aller Albträume.

Chris’ Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, liefen zunächst ins Leere, doch er gab nicht auf, machte immer wieder einen Anfang, um sie abzulenken. Wirklich süß.

„Okay, ich muss jetzt fragen“, begann er nach ein paar Minuten des erneuten Schweigens. „Wie kommt’s?“

Mia schloss gerade in einer weiteren Kurve die Augen.

„Was genau?“, murmelte sie. „Meine offensichtliche Höhenangst?“

Sie öffnete ein Auge und atmete dann nach der nächsten Biegung wieder erleichtert auf. Die Gegend wurde zunehmend gebirgiger und die Felswände zu einer Seite damit auch steiler, was ihr ein gewisses Gefühl von Sicherheit verschaffte – solange sie nur dorthin sah.

„Keine Ahnung.“

Er lachte leise und bemühte sich dann, einen anderen Gang einzustellen, was mit allerlei bedrohlichen Geräuschen einherging. Verdammt, sie hatte noch immer kein Testament gemacht!

„Fast dreißig und noch Jungfrau“, drang Chris’ Stimme wieder in ihre erquickenden Urlaubsgedanken an Ausweglosigkeit und Tod. Okay, die Art von Neugierde war weniger süß.

„Das … beschäftigt dich … was?“ Mia zwang sich, ihn anzusehen. „Schon seit du den Auftrag angenommen hast?“

„Na ja, klar“, fuhr er fort, doch sie unterbrach ihn.

„Weil es nicht normal ist?“

Er schluckte ertappt und schenkte ihr dann ein entschuldigendes Schuljungenlächeln, das seine Wirkung nicht verfehlte. Mia war diese Fragen eigentlich leid, speziell weil sie sich diese selber immer stellte.

„Okay, das war blöd, entschuldige bitte“, versuchte er seinen Ausrutscher wiedergutzumachen. „Es ist ja auch in Ordnung, wenn man ein wenig prüde ist –“

Sie sah ihn entgeistert an, auch wenn sie das nicht zum ersten Mal hörte. „Wieso glaubt jeder, ich sei prüde, nur weil ich noch keinen Sex mit einem Mann hatte?!“

„Du hattest was mit Frauen?“, fragte Chris sofort interessiert und sie warf genervt den Kopf in den Nacken.

„Sorry, ich versau es grad“, sagte er und wieder lag seine Hand auf ihrem Knie, verfehlte aber diesmal seine Wirkung, weil Mia sauer war.

„Hände ans Lenkrad oder willst du uns umbringen?!?!“

Gut. Sauer und paranoid – wenn auch berechtigterweise.

„Toll, wenn ein junger Mann für sein erstes Mal zu ‘ner Nutte geht, dann ist er woow, waas für ein Held!“, regte Mia sich auf. „Aber eine Frau? Neiiiiin! Weil wir ja alle so keusch sind und derartige Bedürfnisse nicht haben. Wenn ein Kerl also für Sex zahlt, dann nimmt man nicht sofort an, dass er verzweifelt ist, bei einer Frau schon. Wir kriegen dann keinen ab und es ist sowieso unsere Schuld. Wir sind peinlich – und prüde!“

„Ach, komm schon!“, rief Chris. „Als würdet ihr nicht automatisch annehmen, dass es sich um einen alten, hässlichen oder nur hässlichen Sack handelt, der die Schnauze davon voll hat, sich vor Pornos zuhause einen zu wichsen – entschuldige – runterzuholen. Ihr Weiber seid genauso sexistisch und voreingenommen wie wir!“

Was?“, fügte er hinzu, als er ihre hochgezogene rechte Augenbraue bemerkte.

Weiber?“, wiederholte sie brüskiert.

Kerle?“, gab er ebenso brüskiert zurück.

„Kerle ist ja wohl nicht so abfällig wie Weiber.“

„Du bist ganz schön kompliziert.“

„Ich bin nicht kompliziert. Ich bin nur nicht so bequem und stets darauf bedacht, Typen zu gefallen, wie die kleinen Mäuschen, die du sonst so vögelst.“

„Du hast doch keine Ahnung, wen ich sonst so vögle.“

„Ich meinte privat – nicht jobmäßig.“

„Ja, ich auch! Und ich stehe ganz bestimmt nicht auf angepasste Mäuschen.“ Er grinste provokant. „Eine Jungfrau hatte ich allerdings noch nicht. Weder privat noch jobmäßig.“

Mia stieß einen entrüsteten Laut aus. „Du sagst das, als wäre ich eine Abnormität, die du auf einer Liste abhaken kannst.“

„Meine Güte, chill doch mal! Du bist dermaßen verbohrt –“

„Na klar“, gab sie mit einem süffisanten Grinsen zurück. „Was kommt als Nächstes: verklemmt? Zickig? Denn das bin ich doch oder für Leute wie dich sind das Frauen im Allgemeinen. Frauen sind zickig, Männer haben Gründe für ihre Wut. Männer haben Temperament, Frauen werden hysterisch. Mannmann, die Welt als männliches Wesen muss so einfach sein!“

„Äh – hallo?! Ich bin … verkaufe meinen Körper – glaub mir mal, meine Welt ist bestimmt nicht einfacher als deine.“

Mia öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder. Was sollte man dazu auch sagen? Sie hatte keine Ahnung, wie man sich mit einem solchen Job fühlte, aber immerhin war er ja kein Straßenstricher, sondern arbeitete für eine seriöse Agentur (obwohl sie davon auch nicht mehr ganz so überzeugt war) – was selbstverständlich nicht hieß, dass sein Leben ein Zuckerschlecken war. Natürlich war es dumm, sich einzureden, dass das  Anbieten käuflicher Liebe für Männer ‚nicht so schlimm sei‘; speziell Analsex, ohne ihn wirklich zu wollen, musste alles andere als angenehm sein.

Ach, verdammt! Warum konnte sie nicht einmal wütend werden, ohne sich in die Nesseln zu setzen? Insbesondere da es ja eigentlich er gewesen war, der erneut aus der Rolle gefallen war und sich benommen hatte wie eine Zufallsbekanntschaft und nicht wie der Gigolo, der er sein sollte. Dennoch war jetzt wieder sie die Unsensible und erneutes Schweigen die Folge ihrer unbedachten Äußerung. Toll! Nur noch ein paar Mal und der Rekord für das Gespräch mit den meisten Pausen ging an sie beide.

Chris fuhr den klapprigen Wagen weiter um die steilen Kurven und Mia entwischte ab und an ein leises Wimmern, wenn der Abhang ihrer Meinung nach zu nah kam. Was alles unter fünf Metern Abstand entsprach. Viel Platz für Wut blieb da in ihrer Gefühlswelt nicht. Auch wenn die noch angebracht war. Ihr eigener Kommentar hin oder her – seine Äußerungen waren absolut daneben gewesen.

„Ah, ich weiß es!“, rief ihr Fahrer schließlich und zu ihrem eigenen Ärger zuckte sie kurz zusammen.

„Du bist in dieser Silver-Ring-Dings und hast geschworen, es erst zu tun, wenn du verheiratet …“, gleichzeitig mit Mias ungläubig immer höher wandernden Augenbrauen kam auch er zu dem Schluss, dass sie ihn dann nicht engagiert hätte, „… aber dann hast du dich umentschieden, weil du keine Lust mehr hattest zu warten.“

Er grinste sie an und Mia legte ihre Hand auf seine Wange und drehte sein Gesicht wieder Richtung Fahrbahn. Warum konnte er es nicht sein lassen und sich darauf konzentrieren, sie unversehrt zum Ziel zu bringen?

„Willst nicht als Jungfrau sterben, oder?“, wagte er hinzuzufügen und lachte dann auf. „Mia, ich veräppele dich doch nur!“

„Ja klar, Mia, die Jungfrau, der große Witz über den alle das Recht haben herzuziehen, nur weil sie es noch nicht getan hat!“

Er schnaufte verblüfft, hielt seine Augen aber diesmal auf die Straße gerichtet, weil dort ein paar Steine im Weg lagen. Einer von ihnen wurde vom rechten Vorderreifen zur Seite gesprengt und flog in hohem Bogen in den Abgrund.

Mia drückte sich in den Sitz und schickte Stoßgebete zum Himmel, dass sie bald da waren. Laut des nächsten Straßenschildes waren es noch etwa fünfunddreißig Kilometer.

„So meinte ich das nicht“, stellte Chris nach ein paar Augenblicken klar, doch Mia winkte ab.

„Ich projiziere lediglich meine Angst vor den Serpentinen auf den Ärger über deine Vorurteile. Abgesehen davon ist es nichts, was ich nicht schon jahrelang gehört hätte.“

Chris biss sich auf die Unterlippe – wobei er nicht sexy aussah!! – und schien zu überlegen, wie er die Fragen stellen konnte, die ihn so offensichtlich beschäftigten.

Eigentlich war es doch gar nicht weiter kompliziert und seine Neugierde verständlich und Mia ärgerte sich über sich selbst, weil sie automatisch wieder in eine Abwehrhaltung verfiel. Abgesehen von Chris’ mangelhaften Konversationsfähigkeiten auf diesem Gebiet sollte sie doch mittlerweile über beleidigten Gefühlen diesbezüglich stehen. Die meisten Menschen reagierten so, speziell Männer – auch wenn sie die Zahl ersterer im Allgemeinen und letzterer im Speziellen so gering wie möglich hielt.

Selbstredend war auch ihr lange Zeit die Frage durch den Kopf gegangen, ob mit ihr etwas ‚nicht stimme‘, doch dann hatte sie dieses ‚Muss‘, endlich seine Unschuld zu verlieren, als das sehen können, was es war: gesellschaftliche Zwänge. Auch da stand sie unter Garantie drüber und  eines war ganz klar: Das alles hier tat sie nur für sich, aber vielleicht war der ganze Plan mit ‚vor dem Dreißigsten‘ auch blöd gewesen, wie Judy schon von Anfang an behauptet hatte. Das waren doch nur Zahlen und wenn sie sich so an denen festhielt, dann war sie auch nicht besser als der Rest.

Sie holte tief Luft. „Hör zu, es ist so, wie es ist und wenn das ein Problem für dich darstellt, dann können wir das Ganze auch – “

„Hey, was? Nein!“, rief ihr Begleiter. „Es hat mich nur interessiert, das ist alles. Es ist eben schon ein bisschen … ungewöhnlich, was nicht gleich negativ zu werten ist.“

„Ganz genau“, warf sie ein.

„Du hattest deine Gründe, vielleicht hast du schlechte Erfahrungen gemacht, der Zeitplan hat nicht gestimmt, was weiß ich. Ich war nur erstaunt, dass du diesen Weg gewählt hast …“, er bemerkte ihr Stirnrunzeln und räusperte sich sofort, „… seit ich das erste Mal davon gehört habe. Ich wollte nicht unprofessionell wirken, bitte entschuldige.“

Sie lächelte halbherzig und dann verbrachten sie den Rest des Weges, wie nicht anders zu erwarten, recht schweigend.

Mias Laune änderte sich schlagartig, als sie an ihrem Ziel eintrafen: der Ausblick auf das Mascatal war so unglaublich schön, dass ihr erst einmal der Atem stockte. Riesige Felsen, manche nackt und in den erstaunlichsten Formen, andere von verschiedenartigen Pflanzen bewachsen, bildeten die berühmte Mascaschlucht, die laut eines Prospektes aus dem kleinen Café und Souvenirladen am oberen Rand ‚eines der beliebtesten Ausflugsziele für Wanderer und solche, die es werden wollen‘ war.

„Na, hab ich zu viel versprochen?“, raunte Chris ihr plötzlich ins Ohr und Mias Hände krampften sich noch mehr um Tischplatte und Geländer. Ein Schauer rann ihren Rücken hinab und der hatte nichts mit Chris’ samtweicher Stimme zu tun. Bei ihrem Eintreffen war er mit einer kurzen Entschuldigung Richtung Toilette verschwunden – der Kerl hatte anscheinend ein Blasenproblem – und Mia hatte sich nach einer kleinen Tour durch den Souvenirladen, der Teil des Cafés war, langsam und mit staksigen Schritten auf die Terrasse gewagt. Irgendwie hatte sie es, ohne vor Angst zu sterben, bis zu einem der Tische am Rand geschafft und dann vorsichtig ihren Blick über das Tal wandern lassen.

„Wunderschön“, flüsterte sie ergriffen.

„Aus der Nähe ist es mindestens ebenso beeindruckend“, sagte er und reichte ihr galant seinen Arm.

„A-a-aus der N-nähe?“, wiederholte sie.

„Ja klar. Das romantische kleine Örtchen, weißt du noch? Der freie Himmel über uns, um uns herum das Zirpen der Grillen … Küsse im Sonnenuntergang … Es sei denn, du möchtest lieber gleich hier auf der Terrasse rumma…“

„So freizügig bin ich dann doch nicht, danke.“

Sie stand unschlüssig auf und schloss dann automatisch kurz die Augen, weil sie wieder in den Abgrund geschaut hatte. Ganz schlechte Idee. Nur einen raschen Herzschlag später fühlte sie einen kräftigen Arm, der sich beruhigend um ihre rechte Schulter legte und sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht an ihm festzuklammern. Sie hatte ja gewusst, dass sie Höhenangst hatte, aber nicht, wie schlimm es mittlerweile geworden war, schließlich hatte sie Zuhause keine richtigen Vergleichsmöglichkeiten. Zumindest keine, die sie aufsuchte.

„Es ist gar nicht weit unten“, versuchte ihr Begleiter, sie für seinen Vorschlag zu begeistern. „Nichts, wofür wir Wanderschuhe brauchen oder so.“

„Sorry, aber ich setze keinen Fuß auf irgendeinen Weg, der da runter führt“, sagte Mia bestimmt und deutete auf das Tal hinter sich. „Wir können hier gern einen Kaffee trinken oder so, aber dann würde ich lieber zu einem anderen schönen Plätzchen weiterfahren. Ich meine … du wolltest doch hier nicht etwa übernachten, oder??“

Zelten oder gar das Übernachten bloß im Schlafsack war so gar nicht ihr Ding und so weit sie gesehen hatte, war dem Café hier keine Pension angeschlossen. Außerdem hatte er doch zuvor von einem Hotel gesprochen. Mit Sicherheit würde sie ihren ersten Sex nicht im Freien haben!

Etwas an der Art, wie sich der Mann neben ihr am Kopf kratzte, gefiel Mia nicht.

„Chris?“

„Wie stehst du dann so allgemein zu einer kleinen Wanderung?“

„Wohin?“ Ihr schwante nichts Gutes.

„Sagen wir es so: fahren ohne fahrbaren Untersatz gestaltet sich ein wenig schwierig …“

„Aber wir haben doch einen“, wandte sie ein.

Er seufzte. „Der Tank ist nahezu leer.“

„Definiere nahezu?“

„Wenn wir vom Parkplatz runterkommen, wäre das schon weit.“

„Aber wie kann das denn passieren?“, fuhr sie auf. Ihr blieb auch nichts erspart. „Es gab gar kein Warnsignal!“ Oder hatte sie es nur nicht gehört?

„Das stimmt. Ich nehme an, es ist genauso kaputt wie größtenteils der Rest der Karre. Du kannst gern nachsehen, wenn du mir nicht glaubst“, fügte er hinzu, ihr Zögern offensichtlich als Misstrauen deutend.

Und wieder schrillten alle Alarmglocken in ihr, doch sie war wohl einfach nur überreizt und das nicht annähernd so, wie sie es bereits hätte sein sollen. Und mal ehrlich, was sollte er denn von ihr wollen? Jessica hatte ihr sicher nicht die Nummer eines Serienkillervereins gegeben.

„Hör zu, ich laufe hier nicht bis zum nächsten Dorf, also entweder nehmen wir den nächsten Bus –“

„Ich befürchte, der kommt erst morgen wieder.“

„– oder ich rufe ein Taxi –“

„Das wird schwierig, am späten Samstagabend in dieser Gegend …“

Mia gab einen unwilligen Laut von sich und bohrte ihren Finger in seine Brust. Seine äußerst muskulöse Brust. „Besorg Benzin oder ein Auto!“

Chris seufzte, nickte schließlich ergeben und bedeutete ihr, sich mit einem Kaffee nach draußen zu setzen, während er sich kurz mit der Agentur absprechen und nach einer Alternative suchen würde.

Die Kaffeetasse war fast leer, als Chris endlich wiederkam, doch das zuversichtliche Lächeln, das sein Gesicht zierte, stimmte sie gnädig und so empfing sie ihn mit einem relativ freundlichen Gesichtsausdruck.

„Und?“, fragte sie, als er nicht sofort mit der Sprache herausrückte, sondern gegenüber von ihr Platz nahm.

„Sie schicken jemanden her, der uns einen neuen Wagen bringt“, ließ er sie wissen.

Sie runzelte irritiert die Stirn. „Und der bleibt dann hier oder wie?“

„Nein, selbstverständlich nicht“, lachte Chris. „Er fährt zurück nach Hause.“

„Und womit? Er kann ja schlecht mit zwei Autos herfahren und sagtest du nicht, der nächste Bus kommt wahrscheinlich erst morgen früh?“

„Ich sagte, ich vermute das, aber ich hatte Unrecht. Der nächste Bus kommt in zirka einer Stunde. Ich hab nachgesehen.“

„Oh.“ Das waren allerdings erfreuliche Nachrichten. „Das heißt, wenn dein Kollege doch nicht den neuen Wagen bringt, könnten wir dennoch hier weg.“

„Ja, aber er kommt“, bestätigte Chris noch einmal und sie wünschte sich so sehr, das er recht hatte.

„Und wann?“, fragte sie etwas zu sehnsüchtig, denn Chris’ fröhliches Lächeln schwand sofort dahin.

„Du kannst es nicht erwarten, hier wegzukommen, oder?“, fragte er geknickt.

Sie seufzte leise, streckte ihre Hand aus und legte sie auf seine. „Das hat doch nichts mit dir zu tun, sondern mit der Höhenlage.“

„Wieso machst du dann Urlaub auf Teneriffa?“ Chris’ Verständnislosigkeit war allzu deutlich aus seinem Gesicht zu lesen. „Die schönsten Fleckchen dieser Insel liegen nun mal eher in der gebirgigen Gegend oder zumindest in Bereichen der Insel, die man nur über die Serpentinen erreichen kann. Hattest du vor, deinen Urlaub nur im Hotel zu verbringen?“

„Nein, natürlich nicht!“, erwiderte sie sofort. „Ich dachte, ich bekomme das in den Griff. Für ein oder zwei Tagestouren.“

Chris betrachtete ihr Gesicht ein paar Herzschläge lang, dann drehte er seine Hand und umschloss ihre Finger mit den seinen. „Sieh das doch als eine dieser Touren an. Ich bin dein Bergführer und du die hübsche Touristin, die ihre Ängste überwindet, indem sie sich ins Abenteuer wirft.“

„Ja, klar“, erwiderte sie amüsiert, obwohl er mit dem Wort ‚Abenteuer‘ genau den richtigen Knopf in ihrem Inneren drückte, „und während der Wanderung durch die malerisch schöne Natur, gerät die junge Touristin in Gefahr und ihr Bergführer …“

„… ihr schrecklich attraktiver Bergführer …“, warf Chris rasch ein.

„… rettet sie aus der Gefahr“, fuhr sie fort. „Und durch diesen großen Schrecken verlieben sich beide unsterblich ineinander. Am Abend finden sie eine kleine Pension, in der  sie …“

„… es vor dem Kamin wie die Karnickel treiben“, ergänzte er mit leuchtenden Augen.

Mia verzog das Gesicht. „Schon ist die Romantik im Eimer. Ich dachte, du gehörst zu den Professionellen!“

„Okay, sie machen stundenlang Liebe – besser?“ Er grinste sie breit an und sie hob provokant die Brauen.

„Stundenlang?“, wiederholte sie.

Sein Grinsen reichte nun fast schon bis zu den Ohren. „Ich dachte, wir stapeln erst mal tief.“

Mia musste lachen. Verdammt! Warum fiel es ihr nur immer so schwer, länger als ein paar Minuten mit Chris böse zu sein? Dabei hatte er es verdient. Auch wenn das Romance-Special noch in der Erprobungsphase war – es derart zu versieben, war schon eine Kunst.

„Und? Lässt du dich nun auf dieses kleine, pikante Rollenspiel ein?“, fragte ihr Gegenüber und wackelte auffordernd mit den Augenbrauen.

„Ich denke darüber nach“, gestand sie schmunzelnd.

Chris warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Denk schneller. Allzu viel Zeit, um das spezielle romantische Örtchen in der Masca-Schlucht aufzusuchen, haben wir nicht mehr. Unser Auto kommt in ungefähr einer Stunde.“

Mia ließ ihren Blick über die wunderschöne Landschaft gleiten und nickte schließlich, obwohl ihr sofort etwas mulmig wurde. Ihre große Angst hatte sich zurückgezogen und der Gedanke, noch mehr von der wunderschönen Natur zu sehen, war verlockend.

Chris winkte dem Kellner und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, als er sich ihr wieder zuwandte.

„Das war die richtige Entscheidung“, versprach er ihr. „Glaub mir, ich werde so gut auf dich aufpassen, dass du deine Höhenangst ganz schnell überwinden wirst.“

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